Mit Kommentaren von Volker Friebel
Der Syrer Iamblichos von Chalkis (die Jahre 240/245 bis etwa 320/325 nach unserer Zeitrechnung) verfasste eine Gesamtdarstellung der pythagoreischen Lehre. Im zweiten Buch, dem Protreptikos (Aufruf) zur Philosophie, fragt er, weshalb „die Natur und die Gottheit uns hervorgebracht haben“. Und er gibt die Antwort des Pythagoras: „Um den Himmel zu betrachten“. Pythagoras habe sich selbst „Betrachter der Natur“ genannt und sei aus diesem Grund ins Leben getreten. (Olof Gigon (1982): Aristoteles. Einführungsschriften.)
Der Satz des Pythagoras aus dem Aufruf zur Philosopie lässt mich nicht los. Etwas Ähnliches habe ich vor einigen Jahren gelesen, in einem Buch über Heidegger.
Heidegger knüpft „am Ende seiner Vorlesung an einen anderen großen Gedanken Schellings an: Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt, daß sie da ist. Diesen Schellingschen Lichtblick (GA 29/30, 529) nennt Heidegger die offene Stelle, die sich im Menschen inmitten des naturhaft verschlossenen Seienden aufgetan hat. Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre vorhanden, aber es wäre nicht – da. Im Menschen ist die Natur zur Selbstsichtbarkeit durchgebrochen.“ (Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland.)
Zwar habe ich nachgeforscht, aber im Netz nichts von Schelling gefunden, das ich mit dieser Aussage verbinden kann.
Und was heißt eigentlich Moral? Die „faktischen Handlungsmuster“ einer Kultur? Was bedeutet es dann, wenn die Handlungsmuster des Regimes im Widerspruch zum Empfinden der Individuen stehen? Aber das Empfinden wird sich schon mit der Zeit ändern, wenn das Regime seine Handlungsmuster immer wiederholt.
„Paradoxerweise liegt ein Hoffnungsschimmer in der Tatsache, daß die Menschen genetisch noch nicht genügend entmenscht sind, um sich der gleichmachenden Überorganisation zu fügen, ohne dabei Schaden zu nehmen“, schreibt Konrad Lorenz in „Der Abbau des Menschlichen“ (1983).
Das wird sich ändern.
Das Gefühl der Freiheit.
Konrad Lorenz „Der Abbau des Menschlichen“, 1983: „Am merkwürdigsten ist dabei die Tatsache, daß eine solche restlose Hingabe an eine Doktrin dem Indoktrinierten das vollkommene und offenbar restlos beglückende Gefühl persönlicher Freiheit verleiht.“
Friedrich Nietzsche in „Ecce homo“, 1889, über Inspiration: „Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit …“
Zwei verschiedene Arten des Freiheits-Gefühls, beide in hohem Maße mit ihrem Gegenteil verknüpft. Wahrscheinlich benennen wir oft falsch, wenn wir sagen, dass wir uns „frei“ fühlen. Wahrscheinlich ist damit in vielen Fällen etwas ganz anderes gemeint, ein Eintreten in ein Größeres, einen Fluss, der uns mitreißt, mit dem wir uns aber eins fühlen.
„Die Wahrheit stiftet nicht soviel Nutzen in der Welt wie ihr Schein Schaden.“ François de La Rochefoucauld, aus „Reflexionen oder moralische Sentenzen und Maximen“, Erstausgabe 1665.
Die heutigen Sekretäre scheinen eher darüber besorgt, wie viel Schaden die Wahrheit anrichten könnte. Da sie ein gutes Herz haben, ersparen sie diese den Menschen soweit sie nur können und bieten stattdessen einen nützlichen Schein.
„Auf die Menschen einwirken kann man nur, wenn man ihre Träume noch deutlicher träumt, als sie selbst, nicht aber, wenn man ihnen seine Gedanken so beweisen will, wie man geometrische Lehrsätze beweist.“ Alexander Herzen (1812-1870) in: Mein Leben: Memoiren und Reflexionen.
„Auf die Menschen einwirken“? Damals gab es fast die Wahrheit und um ein Haar die Ehrlichkeit. „Einen Raum eröffnen“, fände ich als Vorsatz besser. Realistischer ist allerdings „Auf die Menschen einwirken“.
Die Welt ist aus Träumen gemacht.
„Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen“, behauptet Franz Werfel in seinem Gedicht „Der Reim“, das so beginnt: „Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren / Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.“
Will sie das? Vermutlich will Zwieheit dieses und jenes. Vermutlich will sie sich mal entsprechen und mal auf den Unterschied zwischen den Teilen ausdrücklich hinweisen.
Absolute Aussagen wie die von Werfel, machen mich missmutig. Weil sie immer (fast immer) falsch sind.
Dann denke ich allerdings wieder, dass sie als Provokation gedacht sein könnten und eben dafür weit besser geeignet sind, als weise Texte, die alles umschließen und alles umfließen. Weil nur Festes den Fels und das Wasser prüfen kann.
Auf jeden Fall haben Reime mit Beziehung zu tun, ob sie sich nun entsprechen will oder nicht. Es ist ein Gegeneinanderhalten und Prüfen.
„Reden können ist nicht so viel wert wie zuhören können.“ (Sprichwort aus China.)
Wer beides kann, wird der mehr reden oder mehr zuhören?
„Mit Hilfe des rationalen Denkens die Wirklichkeit entdecken zu wollen ist Illusion. Nichts zu denken und die Wirklichkeit sehen ist Gewahrsam.“ (Bodhidharma zugeschrieben)
Unterschreiben möchte ich das nicht. Das Verhältnis zwischen Denken und Wahrnehmen ist allerdings interessant.
Bei Ernst von Glasersfeld, einem radikalen Konstruktivisten, lese ich: „[…] unsere Sinnesorgane ‚melden‘ uns stets nur mehr oder weniger hartes Anstoßen an ein Hindernis, vermitteln uns aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie stoßen. Diese Eigenschaften stammen ganz und gar aus der Art und Weise, wie wir die Sinnessignale interpretieren.“ Und: „Wir bauen uns unser Weltbild aus Signalen auf, die aus Berührungen mit Hindernissen der Umwelt stammen. Diese Signale werden zu Gegenständen verbunden.“
Wahrnehmung wird danach durch „Denk“-Tätigkeit bestimmt. Der Unterschied zwischen dem rationalen Denken und unserer Wahrnehmung ist nicht so grundsätzlich, wie er zunächst scheint. „Gedacht“ wird bei beidem.
Dem rationalen Denken fehlt auf sich selbst gestellt womöglich sogar etwas die Bodenhaftung. Erst die Wahrnehmung bringt diese ein, indem sie eben das „Anstoßen“ an Hindernisse in der realen Welt registriert. Die Welt, die Wahrnehmung der Welt, bringt damit Störung in die Arbeit des Denkens hinein. Dessen Bemühen es ist, diese Störung in Erkenntnis zu transformieren und als Wissen zu integrieren.
Was für eine Art Denken liegt unserer Wahrnehmung zu Grunde? Vielleicht darf man es im Unterschied zum rationalen Denken evolutionäres Denken nennen. Das Denken, das sich mit der Ausgestaltung und dem Erfolg unserer Wahrnehmung entwickelt hat und uns heute noch in allen Belangen des Alltags leitet, auf das unser Bewusstsein zurückgreifen kann, das aber aus nicht bewussten Quellen stammt. „[…] die Klugheit der Zunge z. B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins“, schreibt Nietzsche dazu.
Das rationale Denken ist noch sehr jung. Und erfolgreich. Und entsprechend von sich eingenommen. Auch wenn es erst in der Pubertät sein sollte, bringt es doch etwas in die Welt hinein, das so noch nicht da war. Ein Hoch also auf das rationale Denken und seinen 13. Geburtstag! Und wer weiß, in ein oder zwei Millionen Jahren wird es vielleicht auch die Bescheidenheit gelernt haben, die allem in dieser vielfältigen Welt gut ansteht, und sich als eines unter Vielem sehen.
Vielfalt bringt mit sich, dass Fertigkeiten auf unterschiedliche Herausforderungen unterschiedlich gut „passen“. Die Stärke des rationalen Denkens scheint mir im Entwurf übergeordneter Handlungsregulationen zu liegen. Ich werfe den Müll nicht auf die Straße, weil die Stadtverwaltung rational denken kann und eine solche Handlung mit Strafe bedroht. Die Entdeckung der Wirklichkeit, ist die mehr dem rationalen Denken oder dem Achten auf unsere evolutionär gefütterte Wahrnehmung zuzutrauen?
Ein Mann steht am Meer. Kommt er eher mit Halbschuhen oder mit Sandalen ans andere Ufer? Die Meinungen darüber könnten auseinandergehen …
Das Zitat am Anfang ist aus: „Über das Aufwachen“. [Bodhidharma zugeschrieben.] Aus: Bodhidharmas Lehre des Zen. Frühe chinesische Zen Texte. Übersetzt aus dem Chinesischen und mit einer Einführung von Red Pine. Theseus, Zürich & München, 1990 (amerikanisches Original 1987), 49-65, Seite 51.
Die Zitate von Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Gumin, H. & A. Mohler (Hg) (1985): Einführung in den Konstruktivismus. Oldenbourg, München, 1-26. Zitate auf Seite 11 und 12.
Das Nietzsche-Zitat: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 9, Seite 445 (Notiz aus Frühjahr – Herbst 1881).
Zitiert: Pythagoras • Rüdiger Safranski • Heidegger • Schelling • Konrad Lorenz • François de La Rochefoucauld • Alexander Herzen • Franz Werfel • Bodhidharma • Ernst von Glasersfeld