Wünschelrute

Als Edda am Morgen erwachte, waren alle Farben im Zimmer verblasst. Sie seufzte und stieg langsam aus dem Bett. Sie zog die Gardine zurück und sah durch das Fenster in den Garten. Auch hier sah alles trüb und grau aus. Sogar der Gesang der Vögel klang stumpf und hohl. Edda seufzte noch einmal.

Das Frühstück schmeckte ihr nicht. Sie warf das Brot auf den Teller zurück. Der Vater sah sie an und fragte: „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“ Edda antwortete erst gar nicht.

Onkel Martin, der seit ein paar Tagen zu Besuch war, sah sie an und sagte: „Wünschelrute. – Das ist ein altes Gedicht. Willst du es hören?“

„Nein“, sagte Edda.

„Ja“, sagte Mutter.

Und Onkel Martin sprach mit erhobener Stimme:

„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“

„Das ist schön“, sagte Mutter.

„Das ist blöd“, sagte Edda.

„Das habe ich auch mal in der Schule gelernt“, sagte Vater.

Nach dem Frühstück war endlich frei. Edda ging in die Wiesen, um endlich niemanden sehen zu müssen.

Eigentlich hatte ihr das Gedicht gefallen. Mit einer Wünschelrute, das wusste sie, konnte man Wasser unter der Erde finden – oder Gold – oder sonst etwas Wertvolles. Was, das wusste sie nicht mehr genau. Einen Schatz jedenfalls.

Aber was hatte das mit einem Lied zu tun? Das auch noch in allen Dingen schläft?

„Schlüsselblumen“, sprach Edda vor sich hin und hüpfte einmal. Dieser Name hatte ihr schon immer gefallen. Oma hatte einmal gesagt, dass diese Blumen auch „Himmelsschlüssel“ heißen. Das gefiel ihr sogar noch besser.

Edda blieb stehen und hockte sich in die Wiese. Gräser und Blumen. Ein Marienkäfer, der gerade an einem Grashalm hochkletterte. Sie sah eine Weile zu. Eine Fliege summte ihr vor den Augen. Sie stand wieder auf.

Und hockte sich wieder hin. Und versuchte, an einer blauen Blume zu riechen. Und roch ihren süßen Duft.

Eine Schlüsselblume konnte das aber nicht sein. Die waren gelb, wusste Edda.

Sie hielt ein Ohr ganz dicht an die Blume, so dass sie den Kelch sogar einmal berührte – und zurückzuckte. Und es wieder versuchte.

Aber zu hören war nichts. Nur die Laute ringsum. Vom Gras, von den Vögeln, von einem Flugzeug am Himmel, sogar von ihren eigenen Kleidern, wenn sie sich bewegte. Und aus dem Wald etwas Fernes, vielleicht eine Motorsäge. Und von der Siedlung ein Auto.

Und von der Blume die Stille. Irgendwie wurden alle Laute schön, vor dieser Stille, ganz hinten in dieser Stille! Wie es in diese Stille einbrach. Ob die Stille das „Zauberwort“ aus dem Gedicht war? Obwohl sie eben gar kein Wort war, sondern bloß still?

Als Edda nach einer Weile aufstand, war ihr ein Fuß eingeschlafen. Die ersten Schritte hinkte sie noch, dann ging sie schneller, den Wiesenweg hinein in den Vogelgesang.

Die Farben ringsum waren alle kräftig geworden und schön. Und schön waren die Lieder der Vögel.

 

Aus: Volker Friebel (2016): Das singende Kamel. Geschichten für Kinder über das, was wichtig ist. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 


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