Wanderung von Sils Maria zum Lej Sgrischus

Hinterm Nietzsche-Haus beginnt, mit einigen Stufen hinein in den Wald, ein Wanderweg zum Aussichtspunkt Marmoré. Schon nach wenigen Metern öffnet sich eine weite Blumenwiese. Auf einer Bank am Pfad, der durch das hohe Gras führt, lässt sich gut sitzen, da ist, drei Minuten vom Silser Dorfplatz entfernt, nur der Laut eines Sturzbachs.

Hinter der Wiese beginnt der Pfad wieder zu steigen, hinein in den Hangwald, in Serpentinen immer höher, über Wurzeln und Steine, abgefallene Nadeln, an Felsen und Blumen vorbei. Alpenrosen. Das Grün von Blaubeeren. An lichteren Stellen Butterblumen. In den Wipfeln der Lärchen und Arven schlägt hier und da ein Vogel an.

Kehre um Kehre
durch duftenden Wald.
Von oben Kuhglocken.

Vergissmeinnicht, Hahnenfuß, Walderdbeere – und so vieles, was ich mit Namen nicht kenne.

Kreuzende Pfade. Ein Drehkreuz aus Holz – Absperrung für die Kühe. Die weiden auch hier im Wald, lauter Jungtiere. Der Lärm ihrer Glocken zwischen den Bäumen und Butterblumen. Einige fliehen. Elisabeth hat Stöcke dabei.

Sonnenaufgang
im Hangwald. Gras bebt vom Rupfen
der Kühe.

Wir kommen immer höher, durch Hangwald, vorbei an blauem Enzian. Auf Felsplatten geht es über einen Bach. Waldameisen wuseln über den Weg.

Immer wieder kleine Lichtungen. Der Pfad steigt immer höher. Ein Blick zurück trifft zwischen Bäumen und Wolken auf Schneegipfel.

Wenn wir allein sind und in den Bergen, schauen wir hoch. Aber im Tal sind die Geschäfte. Die ziehen uns nieder, dort wabert das Gift und der Lärm. Wir sind Individuen. So wird jeder Versuch einer Veränderung scheitern, und alles geht weiter seinen alten Gang, gegen die Vernunft, die dem Menschen eigentlich eigen ist.

Kühe mit Kälbern starren uns entgegen, entscheiden sich zu weichen. Glückliche Kühe, es gibt sie, hier. Ihre Hörner allerdings wurden entfernt. Sie könnten sich und andere damit verletzen.

Der Wald wird lichter, endlich verlassen wir ihn ganz. Noch ein paar Schritte im Licht, dann sind wir oben, auf Marmoré (2.199 Meter über dem Meer). Im spärlichen Schatten sitzen, Müsli und Brote. Von der anderen Talseite das Donnern der Sturzbäche.

Roter Klee, blauer Enzian, Gesellschaften weißer Blumen, Trollblumen, Alpenrosen: So viele Namen und noch mehr hat die Schönheit.

Über dem Sturzbach der Pfiff eines Murmeltiers. Kuckucksrufe.

Jetzt am Morgen wandern wir von Marmoré zum Lej Sgrischus zunächst im Schatten des Bergs, nicht mehr so steil wie die erste Wegstrecke, aber fast immer leicht nach oben. Die Sonne steigt, wird bald über dem Berg stehen. Wir sind hoch über dem Fextal, die Fedacla rauscht bis zu uns herauf. Vergissmeinnicht auch hier oben. Keine Bäume. Vielleicht sind die Blumen weniger geworden. Die Familien wechseln sich ab. Blauer Enzian ist jetzt häufig.

Entlang eines Spalts
bröckelt der Bergpfad ab.
Murmeltierpfiffe.

Was lässt sich über eine Wanderung sagen? Nichts. Den Rhythmus der Schritte, des Atems, die Farben, die schnell wechselnden Horizonte, die Geräusche gilt es zu erleben.

Ich beobachte, dass die Füße den Weg, die verschiedenen Höhen und Neigungswinkel, ganz allein finden – fast ganz allein, korrigiere ich nach einem Stolpern.

Es sind nicht die Gedanken, sondern das Loslassen von allem, Loslassen auch der Gedanken von der Beobachtung. Wo die Gegenwart Traum wird – und wieder bloße Realität.

Rast im Schatten eines großen Felsblock, Alp Munt, auf halbem Weg zum See. Mücken umschwirren uns, aber sie stechen nicht. Der Pfad liegt ganz im Licht, die Sonne ist über den Gebirgshorizont gestiegen. Kuhglocken. Diese von Felsen überstreute Alp. Hahnenfußartiges. Tau auf Gräsern, auf der Tafel mit der Höhenangabe: 2.439 Meter sind es bereits. Auf der anderen Talseite schimmern, Ende Juni, Schneeflecken, scheinbar tiefer als wir. Leichter Wind. Das Donnern der Sturzbäche. Murmeltierpfiffe. Ein wenig sieht man vom Silsersee. Der Tag hat bewölkt begonnen, das zog dann Richtung St. Moritz ab. Vogelstimmen. Motorradjaulen von der Straße nach Maloja. Wanderer begegneten wir bisher nur einem einzigen.

Überm Schnee
das Donnern des Sturzbachs,
Alpenrosen.

Noch einmal steil hinauf, an einem Sturzbach entlang, der sich nach einer Engstelle auffächert.

Und dann sind wir da, werfen die Rucksäcke ab, setzen uns an das Ufer des Lej Sgrischus. Ein klarer Bergsee. Das Blau des gespiegelten Himmels ist blauer als Blau. Schnee liegt den Berggipfel hinab bis an die Ufer. Einige Eisplatten treiben. Blumen und Gras. Saharastaub treibt als Film auf manchen Stellen des Wassers.

Weshalb empfinden wir die offene Natur als schön? Das Gebirge, diesen See auf 2.618 Metern Höhe, an dem kaum etwas wächst, auf dem noch Ende Juni Eisschollen schwimmen? Nichts an ihm und an unserem Empfinden für Schönheit, an unserer Begeisterung hier zu sein, in diesem Himmel zu atmen, hilft uns weiter im Spiel des Lebens. Und trotzdem!

 


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