Volker Friebel
Bahnstation.
Durchs vernagelte Fenster lugen
Holunderblüten.
Ich heb den Kopf –
unter der Krempe des Wanderhuts
erscheint die Wartburg.
Am nordöstlichen Ende des Thüringer Walds, 411 Meter über dem Meer, liegt die Wartburg, knapp 200 Höhenmeter über Eisenach (etwa 42.000 Bewohner).
Erbaut wurde sie um das Jahr 1067 als Kern der Thüringer Landgrafschaft. Ihr heutiges Erscheinungsbild fußt auf Um- und Neubauten im 19. Jahrhundert.
Viel hat sich in den Jahrhunderten hier ereignet. Drei Geschehnisse stechen heraus und ziehen bis heute Besucher an.
Die Heilige: 1211-1227 lebte Elisabeth von Thüringen auf der Wartburg. Sie war ungarische Prinzessin (geboren 1207, gestorben schon 1231 in Marburg an der Lahn) und deutsche Landgräfin, bereits seit 1235 ist sie Heilige der katholischen Kirche. Mit 14 Jahren heiratete sie, wie von den Familien schon Jahre vorher vereinbart, in Eisenach Ludwig von Thüringen. Nach einigen glücklichen Jahren starb ihr Mann 1227 auf der Reise in einen Kreuzzug. Elisabeth hatte sich schon vorher der zu dieser Zeit aufgekommenen Armutsbewegung zugehörig gefühlt und unterstützte sie nun noch stärker. Bei der neuen Herrschaft fiel sie allerdings in Ungnade, wohl wegen religiöser Differenzen und machtpolitischer Überlegungen, vielleicht hatte sie auch psychische Probleme. Sie musste gehen, fand anfangs nur mühsam Unterkunft, zeitweise hauste sie mit ihren drei kleinen Kindern in einem Schuppen, der zuvor als Schweinestall gedient hatte. Ihre Familie setzte sich schließlich für sie ein. Eine mögliche sehr hochrangige Neuverheiratung lehnte sie ab und übersiedelte nach Marburg an der Lahn, wo mit einem Teil ihres verbliebenen Vermögens ein Armenhospital erbaut wurde, in dem sie als einfache Spitalschwester lebte, arbeitete und nach wenigen Jahren starb. Obwohl sie in ihrer Not auch von der einfachen Bevölkerung nicht unterstützt worden war, entwickelte sich bald nach ihrem Tod eine große Verehrung für sie, die bis heute andauert. Im Jahre 1981, zu ihrem 750. Todestag, versammelten sich Zehntausende von Gläubigen auf dem Domplatz Erfurt.
Der Übersetzer: Vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 weilte Martin Luther auf der Wartburg. Er war als Schutzmaßnahme von seinem ihm zugewandten Kurfürsten von Sachsen entführt worden und lebte unter dem Decknamen „Junker Jörg“ in einem einfachen Quartier auf der Wartburg. Hier übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche, was sehr großen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Schriftsprache und ihrer Vereinheitlichung nahm.
Die Revolutionäre: Am 18. Oktober 1817 trafen sich auf der Wartburg erstmals fast 500 Studenten und Professoren aus dreizehn deutschen Universitäten, was etwa 5 % aller Studenten in Deutschland entsprach, zu einem „Nationalfest“. Gerichtet war das Treffen gegen Kleinstaaterei und Reaktion und für einen deutschen Nationalstaat mit freiheitlicher Verfassung. Seither wird die Wartburg regelmäßig von Studentenverbindungen für Treffen genutzt und zeigt so über die historische Entwicklung, wie freiheitliche und politisch fortschrittliche Institutionen gerade durch ihren Sieg leicht dem sehr ähnlich werden können, gegen das sie sich einst gebildet haben.
Wir steigen in Eisenach aus dem Zug, orientieren uns an den Wanderschilder.
An der Straße beginnt der Pfad. Holunderblüten. Schwalben schreien, ziehen ihre Kreise, wie immer schon. In den Wald, bergauf, noch Autos im Ohr, aber hinein in den Amselgesang, in den Schatten des Walds, die Kühle des Morgens.
Lärchenzapfen,
an denen die Sonne langsam gleitet,
hinauf.
Roter Klee.
Der Pfad zur Wartburg
zugewachsen.
Langsam wird uns klar, dass wir falsch gegangen sind, wir müssen in Eisenach ein Wanderschild missverstanden oder übersehen haben. Wandern wollten wir – und freuen uns, die Strecke so noch auszuweiten. Unterhalb eines Burschenschafts-Denkmals (einige Tage „geschlossene Gesellschaft“, informiert ein Schild) biegen wir wieder hinunter ins Tal. Ein dickes Auto nach dem anderen kommt uns entgegen.
Wir gehen durch Vogelgesang, auf einem Pfad neben der einspurigen Straße, freuen uns an der Kühle des Morgens, am Gehen, an der Bewegung, die jede Faser unseres Körpers bewegt. Es ist hier im Wald, wo das Gesicht freundlich und offen wird – außer Menschen begegnen uns, dann nehmen die Züge wieder eine der üblichen Masken an.
Ob Luther hier ging? Im Zug las ich auf dem Linienplan „Merseburg“ und dachte an die Zaubersprüche. Einen von denen mit einem Satz Luthers vergleichen und damit einen Satz aus heutiger Zeit, das wäre ein interessantes Projekt. Wie völlig anders die Zeiten sind, in der Technik, mehr aber noch im Geist der Menschen. Das ist ein Geflecht, dieser Geist, der uns alle trägt, das sich immer weiter webt, das wir immer weiter weben, aber dessen Struktur und Farben und Muster sich fortwährend verändern. Benachbarten Gebieten merkt man wenig davon an, dass sie fließen, nur mal an einem Abbruch und Wasserfall. Entfernte Gebiete gleichen sich nicht. Nur etwa, dass da ein Gewebe ist, dass es von Menschen gemacht ist, die ein Herz haben, das schlägt, einen Atem – auch unsere Physiologie geht in dieses Gewebe ein, neben all den Irrungen und Wirrungen der Zeiten.
Holunderblüten –
sie erinnern an den Ursprung
des Lichts.
Es sind Sterne. Den Tag erinnern an die Nacht und die Sterne. In der Nacht erinnern, dass das Licht auch auf der Erde eine Heimat hat, zwischen den Menschen.
Ein schöner Gang durch den Hangwald – dann kommen wir an, an den Mauern.
Auf der Wartburg.
Vor den Kanonen Rosen – rote
und weiße.
Wie schön, dass es mehrere Farben gibt. Das Kreuz auf dem Hauptturm sollte aber nicht golden sein. Die Deutschlandflagge sollte hier nicht wehen. Dieser Ort ist größer.
Blick von der Wartburg
auf Wolken – Schwalben kreisen
um uns.
Der Schwung einer Schwalbe,
aus dem Schatten der Wartburg
hinein in das Licht …
Blick von der Mauer –
auch in den toten Fichten
jubeln Vögel.
Vom großen Sterben der Fichten im Harz ist hier wenig zu sehen. Es sind nur Grüppchen abgestorbener Fichten, die große Mehrzahl der Bäume sind Laubbäume, und die scheinen gesund.
Auf der Wartburg
Weintrauben essen, vor dem Zittern
der Horizonte.
Ein stilles Gedenken an das Wetterleuchten unserer eigenen Zeit. Damals, zu Luthers Zeit, hatte sich, nach vielen Kämpfen, vielem Leid, etwas Neues herausgebildet, das einer als besser und ein anderer als schlechter ansehen kann, das aber eine Grundlage für das Leben auf unserer Erde ist. Ob unsere Zeit auch einmal so gesehen wird, zumindest so?