Volker Friebel
Unter denselben
Strahlen der Sonne: Bergsee
und Schmetterling.
Das klare Wasser des Bergsees, türkis. Schneereste am Hang über ihm, manche Flecken fast rosa: Saharaschnee, es ist Anfang Juli.
Gespiegelte Blumen am Wasser des Lebens, gerade hier, wo das Leben schon seltener wird, 2.618 Meter über dem Meer und 800 Meter über dem Talgrund des jungen Inn.
Wir gehen eine Gänseblümchenwiese hinauf zum Piz Chüem auf 2.689 Meter, für einen langen Blick zu den Gipfeln am Ende des Fextals. Erhaben – lange hab ich dieses Wort nicht mehr gehört, es scheint aus der Sprache zu verschwinden, zerbröselt mit den Resten alter Kunst. Aber die Berge sind immer noch da. Und ein Blick ist möglich, zu Gipfeln, Wolken und Blau. Die Zeit ist hier lang.
Irgendwann steigen wir hinab in das Tal, vorbei am Donnern eines Sturzbachs, vorbei an Felstrümmern und freigespülten Schieferplatten, über Gesteinshänge, Geröllfelder, auf Pfaden durch karge Matten mit den übersatten Farben der Gebirgsblumen. Ein Schmetterling flattert ein Stück mit uns, er tut sich leichter.
Fliegen summen, selten pfeift ein Vogel. Wo ist das Wanderzeichen? Es sind die Füße, die den Weg finden, vielleicht helfen die Augen mit, etwas in mir meint, ich könnte sie schließen. Ich schließe sie nicht, denn etwas anderes in mir erschrickt vor dem Abgrund.
Vom Bergell, noch weiter im Süden, von Italien, treiben langsam Wolken heran, am Nachmittag soll es regnen. Über uns ist der Himmel fast blau.
Gänseblümchenwiese.
Ein Murmeltier pfeift, verschwindet
im Fels.
Alpenrosen – sie gelten hier inzwischen als Unkraut, sagte ein Senn uns. Die vielen Farben der anderen Blumen. Einige, die wie farblos oder durchsichtig scheinen, andere so tief lila, das sie sich fast ins Schwarze hinein verstecken und in das Brausen des Gebirgsbachs aus dem See.
Den Sturzbach queren. Und noch ein kleineres Wasser. Schmetterlinge, Klee. Hier unten steht nun auch wieder Löwenzahn, eine erste Pusteblume. Und Kuhglocken läuten vom Talgrund.
An einer feuchten Stelle des Pfads viele kleine Schmetterlinge, die braun zu sein scheinen oder schwarz, durch deren Flügel dann aber auch Grün durchschimmern kann, wenn sie sich setzen. Und das Tosen der Bäche ringsum. Wir sind wieder im leichten Wind, wir schweigen zwischen den Blumen.
Der Abstieg geht nun durch Wiesen voll Wilder Möhre, dazwischen Vergissmeinnicht und sattes Gras.
Nach sechseinhalb Stunden Wanderung seit unserem Aufbruch am Morgen sehen wir den ersten anderen Wanderer.
Arnika-Wiesen.
Im Wind das gelbe Band
eines Weidezauns.
Kühe lagern vor dem Drehkreuz, zu dem unser Wanderpfad führt, neugeborene Kälber, Mutterkühe, ein Bulle. Wir gehen einen Umweg, steigen über den Zaun auf einen Weideweg.
Die Fextal-Straße, ungewohnter Asphalt, ein Auto, eine Kutsche, die Sonne brennt. An der Fedacla entlang erreichen wir die wenigen Häuser von Fex Crasta etwas über dem Tal.
Die Insel der Bergkapelle. Grabsteine. An der Mauer die Gedenktafel für einen Wiener Psychoanalytiker, Heinz Hartmann, Begründer der Ich-Psychologie. Sigmund Freud bot ihm eine kostenlose Lehranalyse an, um ihn in der Heimat zu halten. Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland ging er dann doch. Ich schätze die Psychoanalyse eigentlich nicht und neige mich doch.
Wir betreten die Bergkapelle und stehen wie schon oft stumm vor den alten Fresken und dem kleinen Altar.
Das Heilige. Haben wir das nicht schon dort oben erlebt, mit dem See, den Gipfeln, den Wolken? Hier im umschlossenen engen Raum ist es anders. Hier ist es auch da. Aber was ist es? Ist es gar nicht, sondern war? Oder wird? Ist es eine Gelegenheit, die Stille in sich selbst zu hören? Ist es einfach das Wunder der Welt jenseits von allem Geschwätz?
Wenn wir denken, irren wir. Auch unseren Träumen vertraue ich nicht. Aber unserem Staunen. Und unserer Sprachlosigkeit.
Bergkapelle.
In die Stille aufgeschlagen
ein Buch.
Aus: Volker Friebel (2023): Das Echte. Bunte Steine. Edition Blaue Felder, Tübingen.