Wanderung vom Brocken nach Ilsenburg

Volker Friebel

 

Wildgänse –
hoch über den Gleisen, schreiend
dem Horizont zu.

Unser Zug durchbricht
die Grenze. Das Lachen
der Brockenhexen.

So war das auf der Fahrt vom Haiku-Treffen in Osterode beim Umstieg auf dem Bahnhof Ringelheim, als der Blick hoch in die Schreie des Keils am Himmel ging, und auf der weiteren Fahrt nach Wernigerode, als der Zug über die frühere innerdeutsche Grenze fuhr.

In Wernigerode (234 Meter über dem Meer) steigen wir nun in einen Dampfzug. Die Lok heult auf und windet sich mit dem Gefolge ihrer Waggons die Hänge des Brocken hoch (Bahnhof auf dem Gipfelplateau 1.125 Meter über dem Meer, der Gipfel selbst liegt noch 16 Meter höher). Fast zwei Stunden dauert die Fahrt.

Unser Blick schweift von den Dampfschwaden der Lok zu den abgestorbenen Fichtenwäldern der Hänge, und wir schauen uns an, die Worte eines Försters im Ohr, so erhalte der Wald Gelegenheit, sich kraftvoll und natürlich zu regenerieren.

Tatsächlich sehen wir zwischen den kahlen Stämmen junges Grün. Trotzdem schüttelt es uns. Und der Mensch ist immer noch da. Wir sind immer noch da. Auch wenn ich selbst mich formal von den Menschen verabschiedet und den Bären zugewandt habe (Link: siehe Demission).

Pfeifende Dampflok –
unmerkbar leicht das Zittern
der toten Fichten.

Es ist mein Zittern. Weshalb sollten die Fichten denn zittern, selbst wenn sie könnten. Der Zug nimmt eine letzte Wendung – und schnaubt pfeifend in den Bahnhof ein.

Ausgestiegen stapfen wir durch seinen Dampf. Doch Walpurgisnacht ist vorüber, wir kommen wenige Tage zu spät. Nicht zu spät allerdings für den Brockenwirt und die Versuche, selbst aus der Abwesenheit jeglicher Hexen noch ein Geschäft zu machen.

Der Gipfel des Brocken ist nicht sehenswert. Doch der Blick in die Weite ist schön. Wir entdecken auf unserem Rundgang zwischen teils toten, teils grünen Wäldern die Eckertalsperre, durch deren Mitte die Grenze ging, dahinter die Dächer von Bad Harzburg. Etwas rechts davon muss Ilsenburg liegen, unser Wanderziel, 12 Kilometer entfernt, 927 Höhenmeter unter uns, und noch weiter rechts Wernigerode, wo der Dampfzug losfuhr.

Wo wir nun stehen, endet der Hirtenstieg, auf dem Heinrich Heine einst wanderte und der deshalb heute seinen Namen trägt. Er ist eine Panzerstraße geworden.

Denn der Brockengipfel gehörte zur DDR, er war für Wanderer unzugänglich, hier stand eine militärische Horchstation der Sowjetunion. Auf der Fahrt mit der Dampflok haben wir in der Ferne über den toten Fichten das Gegenstück des Westens zum Brocken gesehen, den Wurmberg. Was wir dort für einen Turm hielten, ist allerdings eine ehemalige Sprungschanze. Der Abhörturm der US-Amerikaner wurde abgerissen.

Brockengipfel.
Nur noch die Steine lauschen
dem Menschengeschwätz.

Auf den Panzerplatten beginnt unser Abstieg. Anfang Mai ist es kühl, erstaunlicherweise auch windstill. Die wenigen Bäume auf dem Plateau sind allerdings Windflüchter.

Überall neu aufgeschossene Fichten. Verlorene Kinder eines hoffnungslos gewordenen Forstes sind sie wild gewachsen und werden wild sterben, während die Natur über sie hinweggeht und sich nach und nach ihren Wald mit anderen Arten von Bäumen zurückholt.

Die Menschen sitzen immer noch in ihren Planungsbüros, beim Versuch der Optimierung untragbarer Bewirtschaftungen und Lebensentwürfe, um die strömende Erde dort festzunageln und zu konservieren, wo sie für uns zu stehen scheint: Begrenzung der Erderwärmung, Erhaltung der Artenvielfalt, Verminderung des Ausstoßes von diesem und jenem – und nebenbei tätigen sie neue Geschäfte, etwa den Handel mit Verschmutzungsrechten, steuerpflichtig, zertifiziert.

Die Natur geht über alles hinweg. Manches Leben, auch der Mensch, wird zu den Arten gehören, die drei oder vier oder fünf Grad Celsius über dem Beginn des Industriezeitalters verkraften können oder in diesen neuen Verhältnissen erst so richtig aufblühen. Anderes wird aussterben. Die Evolution aber wird weiterrollen, und das Leben wird wie immer alle Winkel der Erde erfüllen.

Eine Dampflok pfeift,
hinein in die Lieder der Fichten,
der Vögel.

Hirtenstieg heißt zwar der Weg. Doch die Spur Heinrich Heines, der bei seinem Aufstieg tatsächlich einem Hirten begegnete, ist unter den Panzerplatten verschwunden – außer, die Vögel hätten etwas vom Dichter aufgenommen in ihren Gesang, etwas von seinem Atem, ein paar Lieder die er gesungen hat. Vielleicht finden sich in den Tönen dieser Amsel, die in einem Fichtenskelett zu flöten begonnen hat, tatsächlich ein paar Wendungen, die auch in der Prosa Heines schon vorkamen und in seinen Liedern.

Liegengeblieben
am Weg ein Auto ohne Schild.
Aufschießendes Grün.

Über die Panzerstraße
läuft Quellwasser,
schmirgelt am Beton.

Irgendwann sind die Panzerplatten verschwunden. Doch was wird dann sein?

Mir scheint, da ist etwas, das durch all die Wirtschafts-, Regierungs- und Gesellschaftssysteme, die seit zwei Jahrhunderten einander ablösen, hindurchgeht, etwas Falsches, Hässliches, auch in unserem. Und womöglich liegt das Problem gar nicht bloß in der Art dieser Systeme, sondern tief und unveränderbar im Wesen des Menschen. Der aber doch auch gut ist oder gut sein will.

Immerhin verlässt unser Weg nun die Panzerplatten, wird zum Wirtschaftsweg – und der zum Waldpfad. Dass hier Heine ging, will ich glauben, denn die Bäume und die Wurzeln, über die wir gelegentlich stolpern, sehen so aus, als kennten sie derlei sinnlose Gedanken schon von zahllosen Wanderern, Bären und Schmetterlingen.

Bald treffen wir auf die Ilse. Was für ein schöner Bach! Neben ihr geht es weiter zu Tal, am Rauschen, am Gurgeln, am Jubeln, am Lachen die Schnellen entlang aus den neu entstehenden Wäldern in die Verwirrung der Menschenwelt.

Der tote Baum –
heiter berührt vom Klang
des Gebirgsbachs.