Volker Friebel
Frühmorgens an der Ulrichskapelle am Ortsausgang von Böbingen, Textblätter werden ausgeteilt, wir singen, dann geht es los. Noch in der Dunkelheit von Mariä Himmelfahrt beginnen wir, ein Dutzend Menschen, darunter zwei Kinder, eine Wanderung zur Wallfahrtskirche St. Maria auf dem Gipfel des Rechbergs, 15 Kilometer sind das.
Stimmengemurmel.
Die Wegwarten in der Dämmerung
noch geschlossen.
Der Rosenkranz …
Am Gehöft im Schlafbaum
erwachen Vögel.
Abgeerntete Felder, Wiesen, meist schon gemäht. Mais reift. Im Nebel versteckt ahnen wir, hier, unter den Drei Kaiserbergen, altem Bauernland, die Gipfel am Albtrauf. Wir kommen an Bildstöcken vorbei, an einer kleinen Kapelle.
Gang über eine Wiese – meine Schuhe lassen den Morgentau durch.

Wir treten aus dem Gras auf die Straße an einem Schotterwerk. Die Arbeit hat schon begonnen, im Morgendämmern. Hier beginnt das Industriegebiet Bettringen. Wieder der Rosenkranz.
Wallfahrer –
an einer Montagehalle vorbei
in das Morgengrauen.
Am Straßenrand vor den Hallen parkt ein Laster aus der Slowakei, und einer aus Polen, drüben noch weitere, aus anderen Ländern. Die Fahrer übernachten in ihren Kabinen.
An die Straße gepflanzt eine Lindenallee. Die Autoparkplätze für die Mitarbeiter der Industrieanlagen sind gut besetzt. Fertigungsstraßen. Lagerhallen. Logistikunternehmen. Firma Kaiserberg wirbt mit dem Banner: „Die Schnittstelle zum chinesischen Markt“.
Die Wallfahrer gehen singend vorbei.
Aus Wolken
erscheint ein Berg – Hall
unserer Schritte.

Wir verlassen das offene Land. Am Fuß des Rechberg vor dem Wald rasten wir. Alle strecken die Beine, einige beten und singen. Andere Kirchgänger schreiten an uns vorbei. Der Leiter liest aus dem Matthäus-Evangelium.
„24 Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.
25 Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?
27 Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern?
28 Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht.
29 Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen.
30 Wenn aber Gott schon das Gras so kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!
31 Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen?
32 Denn nach alldem streben die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht.
33 Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben.
34 Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.“
(Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart)
Was für Welten möglich sind. Ich lausche und staune am Hang des Rechbergs, während andere singen. Die Welt, durch die wir gehen, mit ihrem Kulturland, ihren sozialen und politischen Institutionen, ist tief vom Christentum durchdrungen, auch heute noch, nach über einem Jahrtausend. Doch sie ist von diesen Worten das Gegenteil, wird bestimmt von Sorge und Geld.
Vielleicht, weil solchen Worten wohl Menschen folgen können, in einer warmen, südlichen Erde, diese sich, wenn es viele werden, aber irgendwie organisieren müssen. Und jede Struktur bringt dann ihre eigenen Notwendigkeiten mit sich und setzt sich, wenn sie gelungen ist, auch gegen die Worte durch, um die es ursprünglich ging.
Auch die Wallfahrer, was wollen sie als lebendige Organismen und was sagt ihr Glaube? Was macht es, wenn beides so oft in Widerspruch steht? Was wird, wenn sich noch etwas Drittes, der Staat, in den Widerstreit einmischt und seine eigenen Ziele vorangestellt haben möchte?
Der frühere Bischof wird zum Gottesdienst erwartet, im Freien vor der Wallfahrtskirche auf dem Gipfel des Rechbergs. Sein kostbares Messgewand neben den „Lilien des Feldes“. Seine Würde vor der Würde des Grases. Die Melodien aus den Liederbüchern der Gläubigen sind schön. Über allem aber leuchtet die Sonne, die nun zwischen Wolken erscheint.
Rechberghang.
Durch das letzte Marienlied
fliegt eine Biene.