Torres del Paine – und der Horizont

Volker Friebel

 

Torres del Paine

Wann wohl der erste Mensch zu diesen Felstürmen aufsah und nach einem Namen für sie suchte? „Paine“ ist einem Wort der Indigenen, der Tehuelche, nachempfunden, es heißt „blau“ oder „himmelblau“. „Torres“ sind Türme. Blaue Türme also. Die Sprache ist fast ausgestorben, die Türme sind immer noch da.

Drei Granitberge sind es, bis 2.850 Meter hoch, etwa in der Mitte des gleichnamigen Nationalparks gelegen. Und der befindet sich weit im Süden Chiles, in den Anden, an der Grenze zu Argentinien. Fast 2.500 Quadratkilometer ist der Nationalpark groß. Er besteht aus Bergen, Seen, Gletschern – und ganz viel Himmel, in dem Kondore kreisen.

Wir kamen von Calafate am Lago Argentino, der Straße und dem Gebirge geschuldet in einem weiten Bogen durch flaches Weideland. An fahlem Gras hinter endlosen Zäunen ging es vorbei, durch das immer wieder Nandus stolzierten. An wilden Guanakos ging es vorbei, durch Staubwolken hinter den wenigen entgegenkommenden Lastern. An großen Seen ging es vorbei, rechter Hand, wo sich der Gebirgszug der Anden entlangzieht, deren Gletscher die Seen speisen und in sie kalben. Es ging durch den Wind, den Wind, den patagonischen Wind. Und über die Grenze nach Chile.

Unser Bogen vollzieht sich. Ein Stück noch auf die Berge zu – und der Nationalpark beginnt, wir müssen uns registrieren, Eintritt bezahlen und weiterfahren, zwischen Bergen zu unserem Lagerplatz am Lago Pehoé.

Abends sitzen wir am See im schwarzen Vulkansand und schauen zu den Türmen hinüber.

 

Nationalpark Torres del Paine, Chile

 

Feuer vernichteten vor ein paar Jahren einen großen Teil des Waldes im Park. Die verkohlten Stämme gehören nun zur kargen Landschaft, als seien sie schon immer dagewesen, wie die fahlen Gräser, wie der Wind.

Wir machen uns auf, wandern vom See den Pfad zwischen braunem, rotem, grünem Gras einen Anstieg hinauf. Mit den verbrannten niedrigen Bäumen wirkt die Gegend gespenstisch. Aber das Grün ist dabei, sich alles zurückzuholen, was die Menschen am Lagerfeuer und die davonfliegenden Funken ihm nahmen, es hat den längeren Atem. Nur der Atem des Windes ist vielleicht noch geduldiger.

Noch um die Biegung herum – und die Wanderer kommen an einen zweiten See, den Lago Nordenskjöld, benannt nach einem schwedischen Geologen und Polarforscher des 19. Jahrhunderts, der auch in Patagonien tätig war. An seinem See wachen die Riesen der Berge. Ziehende Wolken beginnen ihre Gipfel einzuhüllen. Ein Regenschauer.

Ich bin stehengeblieben, verberge mich unter dem Schirm. Und wandere weiter, als der Schauer schwächer wird, am reißenden Paine-Fluss, der den Lago Nordenskjöld mit dem Lago Pehoé verbindet. Am Salto Grande, dem großen Wasserfall, stehen vor der weißen Gischt Margeriten. Sie zittern im Zittern der Luft.

Donnern! Die Wucht im Stürzen des Wassers! Aber wenn das Wasser in der Gewalt zu Dampf wird, zeigt sich, dass es eigentlich steigen will, hinein in den Himmel. Alles Abwärts ist nur eine Episode, selbst der See, selbst das Meer, der Pazifik, der uns hier nahe ist.

 

Nationalpark Torres del Paine, Chile
Wasserfall im Nationalpark Torres del Paine, Chile

 

Eine andere Wanderung führt von unserem Lagerplatz am See steil den Hang des Berges hoch, der über uns ragt, zum Mirador Cóndor. Ich pflücke und koste die Süße der Calafate-Beeren von den wilden Sträuchern am Weg. Wir steigen weiter, zwischen fahlen Gräsern und dem Schwarz und Weiß verbrannter Bäume hinein in den Wind.

Der immer stärker wird, je mehr wir uns der Felskuppe nähern. Wir bleiben stehen und spähen hinauf – da sind die Horste von Kondoren, das Weiß ihres Kots am dunklen Fels. Auf dieser Fläche noch unterhalb der Felskuppe ist der Wind so stark, dass wir ein Gefühl davon bekommen, wie Fliegen sein muss: Nur noch die Arme ausbreiten … Eine Frau stürzt rückwärts ins lachende Gras.

Zwei Kondore haben sich in den Sturm geworfen. Sie ziehen immer höhere Kreise, zeigen uns ihre Straßen im Himmel, wo wir nicht folgen können. Über den See, den Bergen zu, sind sie das noch, vor dem Gletscher? Vielleicht sind da gar keine Straßen, vielleicht fliegen die Vögel ganz frei.

Dass die Freiheit des Kondors gerade in diesem Sturmwind liegt, der ihn doch nötigt, dagegen zu halten! Ist es, weil alle Freiheit sich erst an einem Widerstand zeigt? Und darin, dass der nicht überwunden werden muss, sondern genutzt werden kann, für etwas, das ohne ihn gar nicht möglich wäre? Ich beschatte die Augen und starre ins Himmelsmeer über den Türmen.

Wahrscheinlich sind, wie wir, die Kondore von der Parkverwaltung registriert, in kleiner Schrift in ein Buch eingetragen. Und am Jahresende gehen sie in die Statistik ein, werden abgestempelt und dienen der Parkverwaltung in Anträgen zur Einstellung weiterer Mitarbeiter oder zur Regulierung des Touristenzugangs als Fußnote. Doch die Kondore wissen das nicht. So sind sie frei und fliegen über alle Formulare hinweg.

Mirador Cóndor, Nationalpark Torres del Paine, Chile

 

Ich notiere einige Haiku.

Baumskelette
im kalten Wind. Aus dem Dunst
starrt ein Berg.

Das sanfte Rund
einer Bucht. Magellan-Gänse
stechen in See.

Regen beginnt.
Der schwarze Sand am Vulkansee
wird schwärzer.

Treibender Regen.
Die Sonne erleuchtet
Tropfen im Baum.

Nach dem Schauer:
Eine Böe schüttelt aus Bäumen
das Licht.

Unter einem Schutzdach am Lager tippe ich die Haiku aus dem Notizbuch in den Klapprechner ab, als mein Blick plötzlich hoch in den Himmel geht – war es ein Schatten, der mich streifte? Drei Kondore segeln im heftigen Wind, zwei Alte und ihr Junges, zeigen einander ihre Flugkünste.

 

Kondore im Flug, Nationalpark Torres del Paine, Chile

 

Am nächsten Morgen Frühstück im Regen. Sturm heult. Ein Motor brummt. Wir machen uns abfahrbereit. Als unser Bus losrollt, bricht die Sonne durch. An den Bergen hängt ein Regenbogen. Und wir sind hier, zwischen allen Wundern der Welt. Wir fahren.

Unser Bus verlässt den Naturpark und das Gebirge. Immer wieder geht unser Blick zurück. Sehen wir noch einmal die Kondore am Himmel über den Felstürmen? Der blaue Glanz ist von den Seen am Fuße der Anden. Wir fahren in die Weite hinein.

Durch flaches Land an der erstarrten Brandung der Anden, durch Staub und Wind. Nach Stunden wieder Bläue, ein Fjord: „Ultima Esperanza“, letzte Hoffnung. Ein Schneegipfel. Weiße Blütenblätter. Die Schärfe aller Farben. Ob es zusammenklingt, ob es zu widersprechen scheint: Alles ist schön. Alles lässt uns fassungslos nur noch diese Schönheit betrachten.

Alle Worte versagen in dieser schroffen, einsamen Schönheit. Weiter geht es, einfach nur weiter, den Fjord entlang, durch das Städtchen Puerto Natales, und immer noch weiter, nach Punta Arenas, an die blaue Straße des Magellan.

 

Regenbogen, Nationalpark Torres del Paine, Chile

 

Unter Schneegipfeln
ein See. Flamingos färben
den Wind.

Fjord der letzten Hoffnung –
über der Gischt
Kamilleblüten.

 

Fjord der letzten Hoffnung, Chile

 


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