Nebelfahrt

Volker Friebel

 

1

Ein Zug jagt durchs Land,
seine Ladung: Koffer und Menschen.
Er führt sie in den Nebel hinein, den er teilt,
der hinter ihm sich schnell
wieder schließt.

An den Schienen
träumen die Ufer.

 

2

Kräne am Strom, ein Land der Erfinder.
Die Menschen kennen hinter Bauklötzen
ihr Herz nicht und nicht ihre Heimat
unter den Ansagen steigender Grundstückspreise.
Schienen rosten, aber die Züge sind neu
und beschleunigen noch,
in den Nebel hinein.

Über dem Leitungsgewirr
ziehen Wolken.

 

3

Zwei Soldaten auf der Bank nebenan
unterhalten sich über Auslandseinsätze,
Besoldungsstufen, Gefahrenzulagen. Die Stimmen
sind düster. Ihr Feldlager ist schwer befestigt.
Die einheimischen Hilfskräfte bleiben unzuverlässig,
Söldner im eigenen Land. ,Entwicklungshilfe‘ ist ein
weit dehnbares Wort, noch dehnbarer als etwa
,Verteidigung‘. Das dortige Regime ist hoch verschuldet,
und es wird dafür gesorgt werden, dass das so bleibt.
Den Fluss der Gelder kontrolliert das Geld.
Die Kanzlerin weiß von nichts, und sie weiß,
das ist besser so. Jedes Lächeln ist vieldeutig.
Ein hartes Geschäft. Einen Dollar zu verdienen,
kostet 100 Dollar. Es lohnt sich trotzdem.
Denn die Ausgaben sind Steuergelder.
Im Fernsehen der Drogenfahnder ist wütend:
Mehr als die Hälfte seiner Ermittlungen dürfe er,
Anordnung von ,oben‘, nicht weiterführen.
Die kleinen Drogenbanden kämpfen mit Stahl,
die großen mit Tipps, mit ,Spenden‘, beispielsweise zur Wahl
der drei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten.
„Abschaum schwimmt oben.“
Was ist ein ,kleineres Übel‘?
Die großen Erfolge der Fahnder: Züge im Schachspiel
der Banden. Deren Nachschubwege
sichern Armeen.

 

4

Die lichte Reihe der Bäume
oben am Waldhang, zwischen denen
der Himmel vorlugt –
das Wasser des Flusses, der das Stauwehr
hinabstürzt, zwischen Feuern
des Löwenzahns.

Man wird, was man sieht.
Schienen zeigen den Weg.

 

5

Ob wir die Schneide des Messers berühren,
ob unsere Finger über die Rinde des Baumes streichen,
ob wir an den Astern riechen,
ob die Hand eines anderen sich uns entgegenstreckt,
ob unsere Hände sich schließen um den Griff einer Axt:

Man wird, was man tut. Schienen führen
vom Augenblick fort.

 

6

An Lagerhallen vorbei, an Kränen, die über
schnell wachsenden Rohbauten schwanken,
über rostbraune Gleise, in die Freiheit
leichten Gepäcks, in die Gewissheit,
nichts zu sein und zu haben für einen Tag
als sich selbst.

Die Bienen summen immer darin,
die Wasser strömen immer darin.
Sie kennen sich nicht.

 

7

Was ist der Mensch? Mathematisch betrachtet ein Affe
mit explodierenden Freiheitsgraden –
der sich müht, die Unbekannten alle zu ersetzen,

durch Kühlschränke, Bierkisten, getürmte Höhlen,
Versicherungsscheine, Aktiendepots, bis er alles hat
und wieder gehen kann, woher er kam.

Aber schon Affen träumen zuviel.
Das Meer hat seine Anziehungskraft nie verloren,
etwas im Menschen will ganz zurück,

an die Unterseite einer Koralle etwa,
als ein Zellverband, aus der eine Einheit
sich löst und davontreibt.

 

8

Die junge Frau im Sitz gegenüber
liest ,Leben mit dem Krieg‘. Ihr Gesicht
wirkt allerdings hart. Doch nun
klappt sie das Buch zu, lehnt sich zurück,
schließt die Augen.

 

9

Im Traum hab ich das Leben geahnt.
Wenn ich die Augen öffne,
spür ich die Schwerkraft viel mehr,
seh ich nur Grenzen und Machtverhältnisse,
nicht mehr die Möglichkeiten,
den Zauber des Seins.

 

10

In Schneereste und fahles Gras
niedergebrochene Äste.
Ein dünner Dunst liegt im Tal.

Gelbes Moos auf den Ziegeln des Turms.
Unser Zug steht,
doch wird weiterfahren.

Überall sind wir zu Hause.
Unser Herz schlägt
und will weiterschlagen.

 

11

Jeder weiß, wohin er will. Nur nicht der Himmel.
Winde zerren an den Leben der Menschen.
Schienen legen einen Weg für die Träume.

Jemand schrieb ein Buch über Falkenjagd.
Jemand hat ein Schwanenei
in das Nest einer Gans gelegt.

Jemand hat die goldene Gans getauscht
für einen Platz auf dem Brunnenrand.
Der Prinz ritt aus dem Schloss in den Wald.

 

12

Oberleitungsschaden,
„auf unbestimmte Zeit“ im Zug festgesetzt,
während draußen der graue Tag
dauert und dauert.

Keine Bahnhofstauben in Sicht, da ist nur
das Rauschen der Klimaanlage.
Woher, wohin sind vergessen.

 

Erstveröffentlichung in: Volker Friebel (2013). Oberleitungsschaden. Gedichte. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 


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