Morgendlicher Gang durch Varanasi

Volker Friebel

 

Varanasi. Die Ghats, die Treppen zum Ganges. Für die Verbrennung der Toten geschichtetes Holz, zwischen denen eine Kuh ganz langsam in den Morgen hineinschreitet, an Bettlern vorbei, die ihre Schalen ins Licht halten. Aus einer Pfütze leckt ein Hund Wasser. Daneben Pisse und die Heiligkeit eines Kuhfladens. Kleine Altäre in die Wände der engen Gasse hineingebaut, mit Blumenkränzen vor dem Bild eines Gottes.

Dies ist die Stadt Shivas, des Glückverheißenden, des Königs des Tanzes, des Herrn der Asketen, der diese Welt zerstören wird, für einen neuen Anfang. Der Ganges entspringt aus seinem Kopf, eine der langen Haarsträhnen des Göttlichen in meiner Meditation der unvollkommenen Welt.

Menschen strömen aus den Gassen zu den Ghats, für die morgendlichen Waschungen im Fluss. Der Müll und Dreck von Jahrhunderten ist hier und da zu Haufen zusammengekehrt, die vielleicht irgendwann jemand abholen wird. Junge Hunde spielen auf einem Mauersims. Ihre großen Augen sind freundlich und tief. Zwei Kinder sitzen daneben, zählen Geld. Ein Mädchen in Schuluniform läuft eilig an den Pilgern vorbei, ihre Richtung ist entgegengesetzt, ihre Schritte sind hell, keine Abdrücke bleiben in der Pisse der Gasse zurück. Keine Abdrücke auch von den nackten Füßen der Pilger.

An einem Kontrollpunkt der Armee hat eine Garküche geöffnet, ihre Gerüche vermischen sich mit den Gerüchen von Schweiß und Urin, in der Nähe einer Moschee, für die vor Jahrhunderten ein Tempel zerstört worden ist. Nun wird der Ort von beiden Religionen verehrt, und das Blut ist schnell zu kochen bereit. Automatische Gewehre stehen im Müll, eines berührt eine Kette verblühter Blumen. Von den Dächern fallen Schatten von Soldaten, tiefer als Nacht.

Ein Mann tritt in die Pedale seines Fahrradkarrens, befördert einen anderen Mann. Beide schweigen. In einem Hauseingang gibt es Streit, Worte schaukeln sich hoch in die Gleichgültigkeit des Morgens. In dieser Frühe sind die meisten Fenster verschlossen.

Varanasi! Wo der Kot heilig geworden ist und von den welken Ketten der Blumen im Staub aus etwas in diese Welt ragt, das anders ist und doch ganz sie selbst, ein Spiegel, dreckstarrend, blind, der nur die Reinheit des Herzens zu zeigen bereit ist und an dem der Verstand sich bricht, wie eine Seifenblase, die platzt und den Himmel im größeren Himmel sich auflösen lässt.

Fahrradlaster
mit Backsteinen, vorbei an
der Müll fressenden Kuh.

Gassenenge.
Eine geduldige Kuh versperrt Pilgern
den Weg zur Erlösung.

Am Schrein
pisst ein Hund. Der matte Glanz
des Türschlosses.

Ein Blumenkranz
welk im Staub. Pilger strömen
an Gewehren vorbei.

Auf der Stromleitung
turnt ein Affe – über Berge
von Müll.

Aus einem Haus wächst
schmutzstarrend ein Baum, die Blätter –
grün.

Kinder,
die niemand sieht, auf ihrem Weg
zur Tür.

 

Aus: Volker Friebel (2015): Im ausgewilderten Licht. Orte und Wanderungen. Edition Blaue Felder, Tübingen. PapierBuch und eBuch.

 


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