Hölderlin in Tübingen

1

Ende der Nacht.
Unter neu ergrünenden Weiden
schaukelt ein Kahn.
Blüten erleuchten
die Tiefe.

Ein Fenster des Turms
steht weit offen. Der Dichter starrt
durchs Weiß des Papiers.
Über dem Pult
schweben Sterne.

Das Telefon glimmt auf
und erlischt. Gedämpftes Plappern
von Filmsequenzen.
Morgenkühle. Erste Vögel
im Wind.

Das leere Glas auf dem Tisch
ist voll Himmel.
Seine Augen sind alt geworden.
Um zu sehen, schließt er
die Lider.

2

Jahrhundertelang querten Pferde die Brücke.
Dann kamen Motoren auf, die Wagen belebten sich,
fuhren schneller. Auch die Füße
der Mägde und Knechte beschleunigten,
während hoch am Himmel
freigelassene Sterne galoppierten und wieherten.
Oft lachte ich mit ihnen.

Früher sann ich viel um die Griechen.
Schließ ich heute die Augen,
seh ich die Heimat.

Das Regal meiner Bücher.
Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Klavier.
Die Fenster zum Neckar.

3

Eine junge Frau trägt Blumen im Haar.
Ältere lächeln dazu. Doch das Ewige leuchtet
aus dem auf, was jung ist, nicht aus
dem Erfahrenen, von Menschenmeinung
Verzogenen, es leuchtet aus dem, was nahe
am Quell wohnt, aus Günsel,
Kastaniendolden, einfachem Gras,
aus dem Flug einer Biene,
selbst aus Steinen.

Am Rand der Sterneninsel
sind Margeriten erblüht, zirpen Grillen,
öffnen sich Augen groß
in das Geheimnis des Lebens,
das offenbar wie der Himmel ist,
wenn du es anblickst, wenn du in die Augen
des Gegenübers blickst,
der es auch sieht,
in dir.

Schon das Kleinkind patscht seine Hände
und lacht. Doch zu sehen
ist schwer. Vielleicht lernt ein Mensch das,
wenn er zu sterben beginnt. Vielleicht heißt sterben
Wahrheit werden, so wie Wasser sein strömen heißt,
auch in der Tiefe des Sees.
Wie schwerelos gleit ich manchmal
im Traum. Bunte Fische
stupsen mich an.

4

Erst als ich die Menschen verließ,
sah ich die wirkliche Welt: Blühende Kirschen
bei Nürtingen, wilde Bienen an den Hängen
des Spitzbergs, Kiesel
am Neckarstrand.

Ich hab mit den Fühlern
der Weinbergschnecke getanzt. Ich hab gelacht
und Lieder geschrien, hab gelauscht
den Hymnen der Vögel
und Steine.

Doch alles, was ich entdecke,
zerrinnt, wie mein Leben. Im Dämmern
liegt die Welt immer neu.
Morgen, Abend?
Das frag ich nicht mehr.

5

Wenn es gut ist, zusammen zu leben,
warum bin ich hier so allein?
Die Schwalben, die Wellen, die Menschen
hinter den Fenstern des Turms
genügen nicht lang, die weißen Spritzer,
die Spiegelbilder.

Ich trage ihnen Gedichte vor, vom Frühling,
vom Sommer, vom Winter, vom Herbst.
Wir staunen vor Seifenblasen – bis sie platzen!
Was bleibt, sind Erinnerungen, sind Träume
von einer anderen Welt
als diesem Reich fester Mauern.

Wir sitzen in Zimmern und kennen uns nicht.
Die Bäume nachts im dunklen Wald,
die kennen sich gut. Nur das Wasser
und vielleicht noch die fernen Lieder,
die Sterne, die kennen
wir alle.

6

Hinter Mauern die Welt
ist verrückt. Wenn einer sie aufgibt,
wird alles gut. Aber wie geht das?
Unter Spitzengardinen
gleiten Schwäne vorbei.

Manchmal poch ich an Wände,
ganz leicht, nur um mich selbst zu spüren,
die Knöchel der Finger;
danach betrachte ich meine Hände
und wir schweigen.

Manchmal steh ich einfach am Fenster,
schau hinüber zur Insel im Fluss,
wo die Herrschaften spazieren, parlieren,
wo junge Platanen aufstreben
ins niedergehende Licht.

Wenn ich am Neckar sitz,
erinnert mein Spiegelbild mich
an die Zeit. Wie jedes Wollen
einfach vergeht. Wie jeder schöne Traum
endlich zerfließt.

Früher, wenn ich still war,
redete etwas aus mir. Dem lauschte ich,
schrieb es nieder. Jetzt red ich selbst,
gebe den Spatzen Namen,
nicke den Wellen zu.

Die Schritte durchs Zimmer
schließen endlos den Kreis. Ächzende Dielen.
Nachts singen Sterne.
Jahresringe
wachsen in mir.

Wenn sie fliegen,
recken Schwäne den Hals.
Die Schritte im Zimmer geht
niemand. Für den wir viele Namen haben
und nie verwenden.

7

Wie waren wir froh, als dies alles begann.
Die Welt war weit, voll Möglichkeiten,
und sie schien unser. Auf Schwänen flogen wir los,
über Ströme. Was will das Herz, wenn es jung ist?
Kämpfen und lieben. Doch das Wetter
schlug um. Die Blitze
enden nicht mehr.

Im Kriegslärm hab ich nach Stille gesucht,
in der Stille nach den Gefährten.
Gewehrkugeln gleich kreisen Sterne
um jedes einsame Herz.
Wie ist der König Kaufmann geworden,
wie Kameralinse? Wie gebiert er das Funksignal,
das die Drohne zum Mordanschlag leitet?

Wer auf dem Waagbalken tanzt,
macht kleine Schritte. Die Freiheit ist lange verloren.
Wer den Mut bewahrt, ist mit seinem Atem allein.
Der Schmetterling darf taumeln,
solang er nicht stört. Der Dichter darf spielen,
solang er nichts sagt. Der Liebende
darf immer noch lieben.

Im Angesicht des Endes steht jeder allein.
Dann plätschern die Brunnen im Schatten,
in dem stumpf der Tau einfach liegt.
Nur Gänseblümchen wachsen in jeden Monat
des Jahres, sie, einzig, verließen mich nicht.
Hätte ich Sommersprossen wie sie,
könnte ich glücklich sein.

8

Doch was ist Glück?
Der Tag eines Murmeltiers, es blinzelt
zwischen Felsen ins Licht.

Aber der Adler kreist!
Wir schauen nicht auf in den Himmel,
wir fliegen durch ihn.

Und wurden dabei nicht wie er,
er wurde wie wir, Ströme Bier und Benzin
pulsieren durch uns –

während die Luft
steht, während ein Zeiger der Sonnenuhr
Schatten durchwandert.

Es ist des Menschen Schatten.
Nur mein Atem erinnert mich noch
an die Quellen.

9

Wie in jenen Jahren alles
so vielfältig war! Von Gott sollt ich lernen
und lernte von Göttern.

Doch sie erschlugen einander,
ihre Knochen liegen verstreut noch im Feld.
Nur einer blieb.

Er hat uns künstliche Hirten geschickt,
ihre Kameras überwachen
das Wachsen des Grases.

Tags schaut er durchs Rathausfenster
hinaus auf den Markt,
während die Bittsteller buckeln.

Nachts träumt er von Sand
und Menschenspalieren,
während das Sternenmeer leuchtet.

Wir haben uns eingerichtet
im Vers und im Lauf des Klaviers.
Wir sehen nicht auf.

Auch Lotte trägt manchmal
Stöpsel im Ohr.

10

Die Freunde sind singend gegangen,
hinein in die Welt. Nur ich blieb,
in leeren Tagen der Nacht.
Die Augen des Molchs in der Höhle
verkümmern.

Fremde Menschen schlagen neu ihr Gesicht auf,
am Rande des Himmels,
wo ich immer noch warte, allein,
im Schatten des Traums,
einer unter so vielen.

Von Sender zu Sender
schaltete ich, hoffte von den Gefährten
zu hören. Doch da war nur
das starre Knistern und Rauschen
des Laubs.

So streif von schwarzen Zweigen
ich Schnee, pflück Schlehenbeeren
und koste, winke dem Mond zu,
seh die Sonne den Horizont
Jahr um Jahr erleuchten.

11

Zwischen den Sendern im Radio
das Rauschen: Ich mag es so gern,
stell es jeden Tag neu. Manchmal höre ich Geistern zu,
wie sie versuchen, die Erde
zu retten. Geo-Engineering, Terraformung
der Mutter. Ein Professor erläutert schwierige
Wörter. Eine Politikerin korrigiert die Fragezeichen
im Entwurf ihres jungen Referenten.
Die Menschen wissen alle so viel.
Doch ohne den Segen der Nymphe des Quells
strömt aus Verschmutzungsrechten
nur Geld.

Die Augen des Göttlichen, wo öffnen
sie sich, in welchem Winkel der Seele?
Des Himmels Musik, wo finden die Streicher
sich zur Probe zusammen? Das Rauschen im Radio,
wann stellen die Menschen es alle ein,
wann beginnen sie auf die Quelle
zu hören? Nur Lotte wippt schon im Takt
und summt eine alte Weise
der Liebe.

12

Alle Maße der Menschen
sind von Menschen gesetzt. Für das Maß der Natur
sind sie blind. Und plappern mit tauben Zungen
vom Himmel. Und lauschen dem Geld,
das der Musiker einstreicht.
Und entdecken im Museum selbst hinter den Farben
gar nichts vom Weiß.

Alles Maß der Menschen
misst falsch, weil es für Menschen
erlassen ist, weil es nur den Platz
auf ihrer Sprosse der Leiter
zu sichern versucht. Die Quelle strömt,
will Heimat suchen,
im Leben.

Heimat sind die Knospen der Blätter,
die sich vor dem Winter schon runden.

Heimat ist das ruhige Strömen des Flusses,
an dem die Zeit ruhig wird.

Heimat ist der ziehende Schatten
unter dem starren Zeiger der Sonnenuhr.

Heimat ist die blaue Beere am Dornbusch,
die unterm Schnee erst ihre Süße erlangt.

Heimat ist der Pfiff des Vogels,
der durch den Klang eines Wasserfalls springt.

Heimat ist der eigene Atem, sein Vergehen
und Entstehen auf der Wippe des Lebens.

Heimat ist die Blume, die nicht durch Kampf,
sondern durch Schönheit und Opfer siegt.

Heimat sind die streitenden Hirsche,
deren Blick die Erde hält, während sie stürmen.

Heimat ist der Fuchs, der den Hasen schlägt,
und der Hase ist Heimat dann auch.

Heimat ist die ausgehobene Erde,
neben der eine Urne in alle Tiefe sinkt.

Heimat ist der wirbelnde Schnee,
in dem kein Kristall wie der andere glänzt.

Heimat sind die Blicke der Liebenden,
die eine neue Welt gestalten.

Heimat ist der Schmerz der Gebärenden,
an den die junge Mutter sich kaum mehr erinnert.

Heimat sind die ersten Worte des Kindes,
in denen alle Weisheit der Welt liegt.

13

Ich bin – und kann mich nicht ermessen,
kann nur um alte Worte gehen,
die jemand schrieb, sich selbst drin zu vergessen,
kann an des Neckars Ufer stehen.

Das Lied singt mich so viele Jahre
wie dieses dunkle Wasser fließt.
Denk ich zurück, ist alles Wunderbare
fast so, als hätte ich geniest.

14

Als ich die Liebe verlor
und trauernd saß, zwischen Blumen,
fand ich sie wieder.

Als ich die Liebe fand,
ließ ich sie los, denn ich sah, dass sie
alles durchdringt.

Nun flüstre ich mit dem Klee,
summ mit der Biene, sing mit
dem Wasser des Sees.

Nun hasch ich nach Strahlen
der Sonne, die durch das Laub fallen,
mich zu besuchen.

Schmerzen spüren, heißt leben,
trauern heißt, etwas Abgegrenztes zu sein.

Ausgesetzt in die Zeit wird alles hart.
Doch ich will strömen.

15

Jeder Sonnenstrahl verändert
auch mich, selbst hinter Lidern.
Kerzen in einer Winternacht. Ein Wort, das zeigt,
dass wir nicht so allein in der Welt sind.
Und Namen: Lotte, Johanna, Susette.
Duft der Sterne im Mai.

Die Furcht zu erblinden,
wenn ich die Augen öffne.

Die Hoffnung zu leben,
wenn sich die Augen auftun für mich.

Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar, starb am Mittwoch, dem 7. Juni 1843 gegen Mitternacht in Tübingen, im Turm am Neckar. Jahrzehntelang hatte er als harmlos Verrückter ein Zimmer darin bewohnt.

Aus: Volker Friebel (2019): Manchmal Tau. Lyrik und Haiku. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 


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