Heilig / Der letzte Mensch

Volker Friebel (2022): Heilig / Der letzte Mensch. Lyrik-Sequenz. Audio-Album. Distributor: MusicHub. EAN: 0406494642885. Laufzeit: 27:10 Minuten.

1 Heilig / Der letzte Mensch 01 1:36
2 Heilig / Der letzte Mensch 02 4:33
3 Heilig / Der letzte Mensch 03 1:55
4 Heilig / Der letzte Mensch 04 2:07
5 Heilig / Der letzte Mensch 05 2:37
6 Heilig / Der letzte Mensch 06 1:56
7 Heilig / Der letzte Mensch 07 1:45
8 Heilig / Der letzte Mensch 08 1:24
9 Heilig / Der letzte Mensch 09 2:01
10 Heilig / Der letzte Mensch 10 2:21
11 Heilig / Der letzte Mensch 11 1:44
12 Heilig / Der letzte Mensch 12 3:04

Veröffentlicht: Mo. 03.01.2022
Text und Musik: Volker Friebel
Die Lyrik-Sequenz stammt aus meinem Buch Manchmal Tau (2019) und wurde für diese Aufnahme etwas bearbeitet.

Das Album ist wie meine anderen Alben vollständig auch auf meinem Audio-Kanal bei YouTube zu hören:
https://www.youtube.com/channel/UCa9r52JGr9BVzUg6PTWFFAg/playlists

 

Heilig / Der letzte Mensch

1

Durch die Halle der Götter oben
flutet ewig das Licht – die Dämmerung entsteht
tief unten, wo wir Menschen wohnen,
wohin unsere Schatten
gefallen sind.

 

2

Durch die Kaufzone ziehen Kinder,
skandieren zur Rettung der Welt. Doch die Wüste
vibriert, Berge falten sich auf und verwittern,
spülen ins Meer. Die Flecken der Erde:
sich ändernde Farben.

Aber die Wohnung des Menschen,
mit der Uhr an der Wand, auf dem Tisch
duften Blumen. Reichtum setzt in Pralinen sich um,
in Hundeleinen, Sammeltassen,
Automotoren.

Alles schafft er, schaut auf alles
herab und übernimmt am Schluss
die Verantwortung. Das Heilige wies ihm
einen anderen Platz. In seiner Verantwortung
wird unsere Welt enden.

Wer auf den Tiger springt,
muss ihn reiten. Abspringen kann niemand mehr,
nur Fotos schießen. Es ließen sich Karten
für Reisen zum Mond verkaufen oder Verschmutzungsrechte
zur Rettung der Umwelt.

Das Gegenteil von Umweltzerstörung
ist nicht Umweltschutz,
sondern ein Kuss. Verzicht ist nur ein Wort
der Werbetexter am Dornröschen-Schloss,
ein Wort wie Liebe.

Die Verhandlungen ziehen sich hin, denn
die sieben Zwerge bestehen auf einen gläsernen Sarg.
In den Pausen angeln wir Fliegen und klatschen Beifall
für die Kinder, die im Hof noch immer ernst
Parolen skandieren.

Kosten-Nutzen-Abwägungen.
Gesetzesvorlagen. Aber der Hunger.
Eine Zucht Glückskleeblätter!
Das Schild „Betreten verboten“ macht lachen.
Fabriken für Stacheldraht.

Das Gegenteil einer Armee des Bösen
ist nicht eine Armee des Guten,
sondern ein Pflug. Wer dich zum Kampf bringt,
hat dich besiegt. Du besetzt seine Stelle im Amt,
erlässt Verordnungen.

Keine Verordnung schützt den Quell.
Vielleicht die Nymphe. Vielleicht, wenn wir
uns ansähen, wie tote Philosophen
uns ansehen. Doch sie schließen
die Augen.

Die Erde dreht sich weiter. Bald landen
Schiffe vom Sirius und graben von uns einiges aus:
Vielleicht einen Panzer, ein Gedicht für
die Liebe, den letzten
Aktienkurs.

 

3

Da ist kein verborgener Schatz,
jedes Geheimnis des Lebens ist klar
wie der Himmel.

Es ist in der Art wie du lächelst.
Es ist im Lied, das du singst, in dem,
was aus dem Schall sich ereignet,

wenn du plötzlich,
über alle Wellenkämme hinweg, verstehst,
was die sagt, die dich liebt.

Das Geheimnis ist nichts,
was sich anderen mitteilen ließe oder dir selbst.
Es lässt sich leben.

Leben mit dem Stier
und dem Vogel, mit dem Mond und dem Schirm
und dem Netz.

Leben mit dem Donner am Himmel
und der Saat und dem Schirm, der, ausgeschaltet,
zu spiegeln beginnt.

 

4

Doch was ist Glück?
Nur dieser Eisbär weiß es,
der sich während des nordischen Sommers
im blühenden Gras wälzt,
der still liegt und ins Licht blinzelt.

Nur dieser Säugling weiß es,
der geschrien hat und nun inne hält,
vor einem nahen Geräusch,
der zu lächeln beginnt,
in ein vertrautes Gesicht.

Das Glück ist vergessen.
Ist es ertrunken im Meer der Zufriedenheit?
Ist es in der Gewöhnung erstickt?
Nur seinen Namen
verwenden wir noch.

Wir kennen den Winter
des Nordens nicht, Wir kennen nicht
das Gefühl der Verlassenheit,
im ewigen Flüstern
des Schirms.

Wenn alles redet,
hört keiner mehr zu, wird das Reden
zu Rauschen

und das Rauschen dir Heimat.

 

5

Viele Sprachen beschreiben die Wolken
und ihren Zug durch den Himmel,
beschreiben die sich öffnende Kirschblüte,
den Stacheldrahtzaun, die Öfen,
das Flimmern eines Regenbogens
über dem Wasserfall – manche erreichen
dein Herz.

Welche Sprache setzt dich vor einen Film,
vor bezahlte, zur Schau gestellte Gefühle?
Welche Sprache begleitet dich
beim Computerspiel? Welche Sprache
hat dich zum Kaufen in all die Läden geschickt?
Welche Sprache sagt dir, dass eben dies
alles ist? Iss, trink, schlaf, lieb! Träume sagen
nichts aus, Träume schweben. Wie lang hast du
zu entschlüsseln versucht, was irgend etwas
bedeutet? Wie lang hast du das Klavierstück geübt?
Im Schweben spürst du dein Herz und dein Blut,
das im Kreis geht, der Schwerkraft nach, entgegen
der Schwerkraft. Im Schweben ereignet sich
alle Wahrheit.

 

6

Nagoldtal, Schwarzwald.
Aus dem Fels neben der Schnellstraße
entspringt eine Quelle,
füllt einen Trog, stürzt weiter,
versickert am Straßenrand.

Ich stehe – und einen Augenblick
hör ich nur sie.

 

7

Gibt es einen Quell des Lebens,
an dem wir sitzen können,
uns bis ans Ende der Zeit zu erneuern?

Gibt es ein Staunen,
das bleibt und nicht immer neue
und neue und neue Ereignisse braucht?
Gibt es ein Wort, das uns hält,
das uns Bilder und Orte des Lebens erschafft
und nicht nur andere Worte nach sich zieht?

Gibt es einen Traum,
der kein Traum ist, sondern
ein Sieg?

Gibt es ein Lied,
das uns ganz durchdringt und erhebt,
bis wir fliegen?

Wenn der Tanz vorbei ist,
bleib ich stehen,
lausch meinem Atem.

Wenn der Durst gestillt ist,
ist der Himmel
wieder ganz blau.

Wenn der Grat zu schroff für die Füße ist,
pfeift über ihn
Wind.

 

8

Hinter jeder Sonnenblume
schwankt das verschlossene Gesicht
eines Menschen.

Wie verletzlich wir sind!
Wie wir meinen, Stein sei hart, weil er nicht Tränen
noch Blut hat!

Doch gerade im Strom
schlagen Herzen. Weil er das Geheimnis
des Lebens ist.

Weil er das Krumme
gerade macht, das Gerade beugt.
Weil er in das andere heilt.

 

9

Es ist das, was mit Worten berührt,
doch nicht gesagt werden kann.
Die Amsel singt es!

Singt es mit Tönen, mit Farben
und Formen, mit den Vibrationen,
die durch dich gehen.

Kannst du der Bruder
des Lichts sein, die Schwester
dieses sehr langen Tons?

Kannst du den Liedern
der Bäume lauschen und ein paar Momente lang
Mensch sein?

 

10

Unter der Linde sitzt schon
die Liebste. Gläubige strömen
dem Kreuz zu, ihre Blechkarossen
abgestellt
ins fröhliche Gras.

Mein Platz ist abseits, bei den Feldern,
im Licht, an der Heiligkeit verblühten Rapses,
am Löwenzahn inmitten der Wegspur,
im blühenden Klee,
bei den Liedern der Bäume.

Eine Zeit kann ich hier sein,
kann ich sein, was ich bin.
Warum nicht den Tag lang,
wie die Lerche, wie die Fliegen
im Schatten des Apfelbaums,
wie der verblühte Raps,
wie die Sonne,
deren langsamer Bogen
alle Gebete der Welt
überzieht?

Blechblasmusik weht von Einsiedel her,
vertieft alle Schatten.

Sonnenfluten
stellen die Schatten erst her.

Doch im fröhlichen Pfeifen der Spatzen
ist die Welt schon erlöst.

 

11

Der Himmel ist erfüllt von der Orgel
und vom Hall, der von der Erde
empor stürzt, entlang
an himmelstürmenden
Wänden.

Tief unten am Boden der Kathedrale
Spritzer eines Gesangs.

Tief unten am Boden Herzen, nackt,
zitternd.

Tief unten am Boden die Notwendigkeit
alter Wörter.

Sag „Sehnsucht“, sag „Dunkel“, sag „Liebe“,
sag „Stern“.

 

12

Fuß vor Fuß lass uns setzen,
wandern durch die Kathedrale
der Buchen. Ein kleiner Vogel singt
aus der Zukunft. Ob er die Lieder
der Bäume versteht? Ob er die Lieder
des Menschen in seines mit aufnimmt,
des Menschen, der unter Bäumen saß
und mit ihnen sang? Schatten
und Licht. Die Quelle
ist einer der Orte im Wald.
Wie der Bach, der seine Ufer
ins Offene mitreißt. Wie dieses Polster
aus Moos. Wie dieser Felsen,
der immer noch warten wird,
wenn alle Werke der Maschinen
verschwunden sind.

Die einfachen Lieder der Dinge,
die kein Mensch versteht, die aber
jeden Menschen berühren. Der hohe Glanz
der Wirklichkeit, die sich am klarsten
im Traum zeigt.

Ich bin niedergekniet
an der Quelle. Ich hab das Wasser berührt,
seine Kühle in mich genommen,
seinem Flüstern gelauscht.
Nun geb ich, ein Spiegelbild,
die Welt zurück an das,
was mich wirft.

 


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