Volker Friebel
Röcken wurde vermutlich lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1232 von Sorben gegründet. Es liegt etwa 20 Kilometer südwestlich von Leipzig, auf flachem Land mit fruchtbarem Lössboden, so wie die Dörfer und Weiler der Umgebung. Etwa 170 Einwohner hat es heute.
Die Kirche, mit ihrem Wehrturm erbaut in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, ist in all den Jahrhunderten nur wenig umgestaltet worden. Der Pfarrer Carl Ludwig Nietzsche taufte hier am 24. Oktober 1844 seinen am Dienstag, 15. Oktober im benachbarten Pfarrhaus geborenen ältesten Sohn Friedrich Wilhelm. Eine Tochter und ein weiterer Sohn werden geboren. Am 30. Juli 1849 stirbt der Vater, noch nicht einmal 36 Jahre alt, einige Monate später sein jüngster Sohn.
Anfang April 1850 zieht die Familie, zu der noch eine Großmutter, zwei unverheiratete Tanten und ein Dienstmädchen gehören, nach Naumburg, da die Röckener Pfarrei neu besetzt wird. Friedrich Nietzsche, der spät, dann aber leicht sprechen gelernt hatte, ging seit seinem 5. Geburtstag täglich eine Stunde in die Dorfschule.

Wir kommen mit einem Bus von der Bahnstation Weißenstein, steigen als einzige aus. Die wenigen Schritte zur Kirche, an der ehemaligen Schule vorbei. Kirche und Gedenkstätte sind noch geschlossen. Elisabeth ruht bis zur Öffnung auf einer Bank unter der Linde, ich gehe durchs beschauliche Dorf und ein Stück in die Umgebung hinein.

Saitô Mokichi (1882-1953) schrieb während eines Besuchs in Röcken folgendes Tanka:
Röcken 1923
Wo Friedrich Nietzsche
einst spielte –
über den Dorfteich
ziehen kleine,
unschuldige Wellen.
Ich setze auf meinem Gang durch das Dorf Verse um Verse dazu.

An der Taufkirche Nietzsches
ein Bienennest,
wo goldener Honig entsteht,
wo er reift, strömt,
ein weiteres Jahr.

Regen beginnt.
Der Schwan im Dorfteich hat sein Gesicht
tief im Gefieder verborgen.
Nun blickt er auf,
sieht mich an.

Röcken 2024
Lärm von der Landstraße –
sonst ist das Dörflein ruhig, nur
der Flügelschlag eines Kohlweißlings,
das Lied eines Vogels, Wind
in den Dolden später Holunderblüten –
die hohe Frau wohnt hier auch,
und die Bienen an der Taufkirche Nietzsches,
die immer noch summen und sammeln,
die immer noch speisen
den goldenen Strom.
Dagegen Windmühlenflügel
überm sprießenden Mais.
Neue Schädlinge, neue Pestizide,
neue Zuchten. Die Profite
steigen nicht mehr so schnell,
aber sie steigen.
Schon die Mitochondrien
nahmen wir in unseren Dienst.
Hinterm Zaun grasen Rehe,
eines äugt zu mir her.

Gespiegelte Rosen
im Dorfteich, wo Nietzsche spielte,
als Kind.
Regen beginnt,
lässt sie verschwimmen.


