Prinzessin

Volker Friebel

 

Als Kind schienen die Tage endlos. Eine Woche war schwer zu überblicken, die Jahreszeiten waren Gebirge, die Jahre existierten gar nicht, ihr Kreis war unendlich weit, ohne erkennbare Biegung, ohne erkennbare Wiederkehr.

Nun bin ich alt.

Die Jahresringe der Bäume wachsen nach außen, die ersten sind eng, jeder spätere wird ein Stück weiter.

Könnte es sein, dass die Jahre des Menschen nach innen wachsen? Die ersten so weit wie die Welt, dann immer enger – bis zum Punkt, der uns aus der Welt fort­zieht. Wohin?

Das sind Wintergedanken. Ich aber hab genug von den trüben Tagen, genug von der langen Dunkelheit. Und nicht nur ich. Es lärmt vor dem Fenster, ich schaue hinaus.

Auf der Kreuzung sammeln sich die Kinder der Nach­barschaft zum Austrieb des Winters, zum Faschingsumzug. Sie singen, sie stampfen, sie lachen – und dann geht es los. Anwohner säumen die Straße.

Kinder-Umzug:
Das Strahlen der Mutter
als Prinzessin.

Weshalb kleine Mädchen davon träumen, Prinzessin zu sein? Oder Reiterin? Kaum eine möchte Metzgerin werden oder Fachangestellte im Einzelhandel. Dennoch gibt es in der erwachsenen Welt wesentlich mehr Fachangestellte als Prinzessinnen.

Was heißt erwachsen werden? Vernünftig werden? Dass sich unsere Träume ändern? Nach und nach, im fortgesetz­ten Zusammenstoß mit der Realität, mit blutigen Wänden, Tränen, Karriereangeboten?

Manche Kinder schicken sich nicht hinein, brechen aus. Wenigstens im Roman ist das so. Es sind unsere Helden.

Enttäuscht sind wir dann vielleicht von der erwachsen werdenden Welt, aber betrogen fühlen wir uns nicht.

Warum nicht?

Weil man einer Wand nicht böse sein kann? Oder dem Schicksal? Weil wir niemanden hinter diesen Zwangsläufig­keiten vermuten, keine böse Absicht, nur eben die triste Realität?

Könnte es sein, dass Kinder als einzige Menschen Frei­heit und Würde und Schönheit erleben – und diese mit jedem enger werdenden Jahresring ein weiteres Stück verloren gehen? Zwangsläufig?

Aber nur Träume verändern die Welt, nicht Zwangs­läufigkeiten, die führen die Welt lediglich fort. Die Welt wird von Kindern verändert, jungen und alten, nicht von denen, die in das gebrochen werden, was ist oder was manche möchten, dass ist, nicht von denen, die sich in das schicken, was ihnen vorgesetzt wird.

Vorgesetzt wird die Welt.

Aber nicht einmal die Schwerkraft ist zwangsläufig und unveränderbar. Das weiß jedes Kind, das in die Luft springt, das ins Wasser hüpft und zu schwimmen beginnt.

Und wenn das Kind im Wasser plantschend gar hoch zum Himmel schaut und den Flug einer Schwalbe entdeckt, sind die Erwachsenen widerlegt.

 

Aus: Volker Friebel (2023): Das Echte. Bunte Steine. Edition Blaue Felder, Tübingen.