Volker Friebel
Messe ich die Körpergröße einer Anzahl von Menschen, kann ich anschließend die Zentimeter addieren und durch die Anzahl der Menschen teilen. Das ist dann der Durchschnitt. Etwa die Hälfte der Menschen wird kleiner, die andere Hälfte größer als der Durchschnitt sein. Und trage ich nun in einem Diagramm ein, wie oft jede Größe bei der Messung vorkam, erhalte ich eine typische Kurve, eine Glockenkurve: Die meisten Messungen wird es am und um den Durchschnittswert geben, nach beiden Seiten nimmt die Anzahl immer mehr ab. Das ist die Normalverteilung (oder Gauß-Verteilung).

Glockenkurven erhalte ich derart zuverlässig bei Messungen von Variation, dass die Normalverteilung als eine Grundlage statistischer Berechnungen vorausgesetzt wird, wenn grob geschätzt eine Anzahl von Bedingungen zutrifft. So müssen die Größen fließend vorkommen, es darf also nicht etwa nur zwei oder fünf Möglichkeiten geben, und es dürfen auch keine extremen Ausreißer möglich sein: Körpergröße ist deshalb normalverteilt, die Anzahl der Gliedmaßen nicht.
Die Normalverteilung und ihre Bedeutung bei der statistischen Erfassung und Berechnung hat uns dazu gebracht, unsere ganze Welt statistisch zu verstehen, Zustände und Ereignisse nach Wahrscheinlichkeiten einzustufen. Das ist neu in der Menschheitsgeschichte und hat im Westen, unter wissenschaftlich denkenden Menschen, den kategorial-normativen Ansatz weitgehend abgelöst.
Statistik ist etwa für die Höhe unseres Krankenkassenbeitrags verantwortlich, für unsere Steuerschuld, für die Ausschüttungen bei Glücksspielen, für die Sicherheitsmaßnahmen in unseren Fahrzeugen, für die Zahl der Betten im Krankenhaus, die Operationsfreudigkeit bei Geburten, unser Vertrauen in ein Flugzeug zu steigen, den Versuch eines Mannes eine Frau anzusprechen – und für die Ablehnung der Frau.
Die Anwendung von Statistik kann allerdings manchmal problematisch sein. Vor dem Hintergrund der Normalverteilung könnte etwa Gesundheit statistisch definiert werden: Gesund ist das, was wir faktisch antreffen, krank ist das davon Abweichende.
Die Weltgesundheitsorganisation hat aus gutem Grund einen anderen, den traditionellen Ansatz zur Definition von Gesundheit gewählt und danach festgelegt: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (So verabschiedet 1946.) Gesundheit wird hier also nicht statistisch, sondern als eigene Kategorie formuliert.
Solches kategoriales Denken ist eine zweite Art der Weltbetrachtung. Das Beispiel zeigt schon, dass sie dazu tendiert, ein Denken in Idealen zu fördern. Gesund oder krank, gut oder böse – Zwischenzustände werden eher ausgeblendet. Die Definition von Gesundheit ist in diesem Beispiel sogar so formuliert, dass wir alle mehr oder weniger krank erscheinen. Denn wer fühlt sich schon dauerhaft sowohl körperlich als auch geistig als auch sozial wohl. Kategoriales Denken dürfte durch das implizite Vorhalten eines Ideals meist eine höhere Motivation zur Verbesserung eines Zustands als Denken in Statistik entwickelt – das dafür aber wirklichkeitsgetreuer sein sollte.
„Normal“ als das Gute – oder „normal“ als das, was wir im Durchschnitt antreffen. In einer Lyrik-Sequenz („Erfahrungswerte“, 2009), drücke ich den Unterschied polemisch folgendermaßen aus:
„Normalität, ist das der Mittelwert
aus den Akten der Stadt, dieser Psychiatrie-Ambulanz,
oder das, was du spürst, wenn du am Wasser stehst
und ins Strömen hineinschaust?“
Wenn wir alle mehr oder weniger krank oder verrückt sind, gibt uns Statistik einen Mittelwert, eine „Normalität“, die gleichfalls krank oder verrückt ist – und wir orientieren uns an ihr.
Das ist das Problem der statistischen Normalität: Wenn Normalität das ist, was wir antreffen, wird Krankheit normal, wird Gewalt normal, wird alles, was wir nicht wollen, normal, sobald es nur vorliegt. Und am Normalen orientieren wir uns.
Die Standardverteilung, die Glockenkurve, ist der Geist des Westens.
Eine andere dichterische Stellungnahme gegen sie liest sich wie folgt:
„Und wenn unter tausend Paaren auch nur eins ist, das sich liebt, so ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel: es gibt das Gesetz an“ (Peter Handke, 2000: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982-1987). Dtv, München; Seite 433.)
Aber auch die normative Normalität hat ein Problem: Das „Gute“ ist nicht im selben Maße neutral ermittelbar, wie das, was real vorliegt. Zu erfassen, was denn das „Gute“ ist, kann ganz schön schwierig sein und deutlich mehr Arbeit erfordern, als Körpergrößen mit einem Maßband zu messen. Und wer definiert das „Gute“ überhaupt? Ganz gleich, wer es ist, da werden Interessen hineinspielen. Wer dagegen das Maßband verwendet, ist gleichgültig. Das „Gute“ ist vermutlich auch nicht für alle Menschen dasselbe, nicht einmal für denselben Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Umständen.
Wenn normative Normalität danach fragt, wie etwas „natürlicherweise“ ist, wie steht es, ganz unabhängig vom Problem Interesse geleiteter Manipulation der Definition von „Normalität“, eigentlich um unsere Anker in der „Natur“, unsere Fühler für die „Natur“? Können wir wirklich so ohne Weiteres wahrnehmen, wie etwas „natürlicherweise“ ist? Oder spielen bei dieser Wahrnehmung auch andere Faktoren hinein, wie gleichfalls Interesse, wie Erfahrung, wie falsche Information durch andere, wie der gesellschaftliche Konsens oder der Konsens unseres Bekanntenkreises oder von Experten, denen wir vertrauen?
Und ist Natur denn überhaupt etwas, was wir als festen Bezug nehmen sollten? Ist sie nicht einfach das im Laufe der Evolution zufällig Gewordene, das sich, nun ja, bewährt hat, das aber nicht nur Bedingungen unseres Seins festsetzt, sondern auch selbst Bedingungen unterworfen ist, die sich ändern, entwickeln?
Und wird Natur nicht zumindest in Teilen und immer mehr zunehmend, abgelöst durch „Kultur“, normative Kultur? Aber nicht ganz beseitigt, so dass sich Kultur und Natur oft widersprechen?
Unser Herzschlag bei der Betrachtung des Flusses (die Natur, im Gedicht) auf der einen Seite, auf der anderen unser Herzschlag im Mittelwert unseres Lebens (die Statistik), auf der dritten die Vorgaben des Herzschlags durch das Amt zur Optimierung der Steuerabgaben (die Kultur).
Alles ist wahr, alles spielt in unser Leben hinein, als Möglichkeit, die uns verändert, die unseren Herzschlag verändert. So wie wir uns diesen Möglichkeiten zuwenden, fördern wir sie. Und so wie sie von uns durch unsere Zuwendung gefördert werden, verändern sie uns, verändern wir uns.
Und diese Betrachtung zeigt, dass die Entscheidung für die eine oder die andere Art des Denkens, statistisch, kategorial oder irgendwie anders, von jedem einzelnen Menschen und jeder Zeit und Situation abhängt und nicht von oben übergreifend angeordnet werden kann. Diese Entscheidung setzt ein Denken voraus, nicht ein Befolgen oder gar Gehorchen.