Morgendämmerung auf dem Ganges

Auf dem schwarzen Wasser des Ganges treiben Lichter und Blumen. Fluss und Himmel schweigen. Doch mit dem Dämmern hat die Stille zu erwachen begonnen, um kleine Geräusche herum: Ruderschläge, Spiel von Wasser und Bootswand, Schreie von Möwen.

Pilger sind aus dem Schmutz der Stadt die scheinwerfergefluteten Ghats hinabgestiegen, vorbei an Verkäufern von Blumen und Kanistern für das heilige Wasser, vorbei an Kot und Müll, an Bettlern vorbei, sie waschen sich nun in der Schwärze.

Hunde schlafen vertrauensvoll.

Auf dem obersten Absatz der Treppen steht eine Kuh und schlägt mit dem Schweif nach den gleichfalls schon wachen Fliegen. Es ist 5 Uhr morgens in Varanasi.

Neben dem Ruderer
liegt sein Smartphone –
eingeschaltet.

Mantren wehen
über den Fluss. Im Stein
zirpen Grillen.

Gelbe Fahnen
verraten den Wind. Ein Pilger
spuckt aus.

Vogelschwärme
über dem Ganges. Von den Ghats
läuten Glocken.

Im Sari steigt
die Pilgerin in den Fluss.
Morgenläuten.

Das Spiegelbild des Wäschers
zittert im Fluss.
Ein Ruderer singt.

Ein Vogelschwarm –
Flügelspitzen bewegen
den Ganges.

Ruderschläge.
Das Wasser und ich, wir erwarten
die Sonne.

Im weißen Sari –
der Yogi steigt zum dunklen Fluss
in das Strömen.

Ein Yogi wäscht
sein Gesicht. Im Schmutzwasser
dümpeln Blumen.

Ein Pilger wringt
sein Gewand aus. Wasser tropft
in den Ganges zurück.

Morgendunst.
Ein Hund schnüffelt am Ganges-Ufer
im Müll.

Holzstapel.
Vor dem brennenden Tod
legt ein Boot ab.

Gibt es ein Geheimnis um Leben und Tod? Oder ist alles „offenbar wie der Himmel“? Ist seine Leere nicht Freiheit?

Aus der Berührung von Himmel und Erde steigt der Glanz auch dieses Morgens, und mein Leben kann einfach nur dasein, ein offenes Buch voll weißer Seiten, auf die der Ganges schon Töne zu schreiben begonnen hat. Und auf denen die Töne des Ganges alles Geschriebene löschen.

Im schmutzigen Wasser dümpeln noch immer die Blumen.

Ein paar Lichter sind fortgetrieben, die Strömung nimmt sie hinein in die Zukunft.

Womöglich begegnen wir uns noch einmal.

Vielleicht zu Hause in Tübingen, wenn eine Kerze flackert und die Stille am Morgen zu reden beginnt.

Vielleicht auf Ganymed, beim Aufgang des Jupiters über zwei einträchtigen Eisschollen.

Vielleicht im Schmutz dieses einzigen Tages an einem Shiva-Altar, wenn wir aus dem Boot ans Ufer steigen – und innehalten – und weiter­gehen, ganz langsam, die Treppen hinauf in die erbrochene Stadt.

Ein Asket steigt Stufen
ins Licht, mit tropfenden Kleidern.
Boote.

Aus: Volker Friebel (2015): Im ausgewilderten Licht. Orte und Wanderungen. Edition Blaue Felder, Tübingen. PapierBuch und eBuch.

 


Eingangsseite | Psychologie | Dichtung & Musik | Besondere Orte | Fluten-Log | Zum Autor