Morgen in Jaipur

Volker Friebel

 

Sterne verblassen.
Von nächtlichen Feuern
geschwärzter Asphalt.

Ich sitze am offenen Fenster unseres Hotels und lausche in den Smog, der sich langsam erwärmt.

In der Morgendämmerung hat Musik begonnen. Vom Tempel, der an einen Hotelkomplex lehnt, flutet sie über die Millionenstadt, und immer noch strömen Menschen hinein, vor der Arbeit auf dem Markt, in den Büros, in den Handwerksbetrieben, zu treibenden Rhythmen.

Die Girlanden der Melodie sind immer gleich, immer anders, die Schlange windet sich im Geflecht eines weiteren Tages, das sich kunstvoll zu organisieren begonnen hat, wie es jeden Morgen gelingt, seit Jahrtausenden.

Auf dem Tisch im Zimmer liegt ein aufgeschlagenes Buch, aus dem Krishna zu sprechen beginnt: „Übe dich im Handeln, aber begehre nicht dessen Früchte. Lass weder die Frucht deinen Ansporn zum Handeln sein, noch neige dich zur Untätigkeit. Sei voller Hingabe, widme dich dem Werk, löse jegliche selbstsüchtige Anhaftung, oh Dhananjaya, und sei der Gleiche in Erfolg und Misserfolg. Diese Gelassenheit wird Yoga der Hingabe genannt. Diese Hingabe, oh Dhananjaya, ist weit bedeutender als das Werk.“

Das Werk eines Gottes nennen wir „Welt“. Wie viele Götter kennt diese Erde? So viele wie Menschen.

Heißt „Hingabe“, dem Werk seines Gottes hier zu begegnen? Den Menschen, den Kühen, den Steinen, den Flüssen, den Bäumen?

Heißt es, das andere sprechen zu lassen aus sich, durch sich, wie auch der Himmel durch alles geht, was atmet?

Noch immer schau ich hinaus auf die Stadt. Der Raum um den Tempel ist leer geworden. Ein Auto dröhnt vorbei, Richtung Markt.

 

Krishna-Zitat nach Undine Weltsch & Jens Grünewald (2013): Mahabharata –Buch 06 (die Gesänge 25 bis 42 bilden das Bhagavad Gita). Im Netz, nur als pdf-Datei.

 

Jaipur, Indien, morgendlicher Ausblick aus dem Hotelfenster

 

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