Volker Friebel
Am nächsten Morgen zerrt der Wind vom Meer heftig am Dach eines Zelts vor dem Hotel, in dem unser Frühstück vorbereitet wird. Wir schauen auf die grünen Hügel Marokkos. Mein Herz schlägt langsam.
Auf der Busfahrt von Asilah nach Ceuta, der spanischen Hafenstadt in Nordafrika, halt wir kurz in Tanger, einer großen Hafen- und Handelsstadt, auch etwas Industrie gibt es, und eine Million Bewohner, auch hier meist aus der Umgebung zugewanderte Berber.
Bahnhof Tanger.
Durch den Wind vom Meer
kommt die Liebste.
Bald geht die Fahrt weiter, zur Straße von Gibraltar. Auf der Fahrt durch Tanger muss ich mich daran erinnern: Der Himmel ist immer noch da, wenn auch hoch über uns.
Nicht weit hinter Tanger kommen wir wieder ans Meer. Über dem Wasser Schemen durch Dunst: die Berge Spaniens.
Jbel Musa, Mosesberg, heißt das 851 Meter hohe Bergmassiv am Meer, an der Straße von Gibraltar.
Benannt wurde es wahrscheinlich nur indirekt nach dem biblischen Moses, direkt aber nach Mūsā ibn Nusair, der Anfang des 8. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung im Auftrag des Kalifen das ganze Maghreb eroberte und die Berber zum Islam bekehrte. Auch nach Spanien stieß er mit seinen Truppen vor, im Juni 712, und eroberte große Teile des dortigen Westgotenreichs.
Als er über die Pyrenäen weiter nach Südfrankreich vorstoßen wollte, wurde er von einem neuen Kalifen zurück nach Damaskus beordert. Er fiel beim neuen Herrscher in Ungnade und starb im Jahr 715 in der Fremde als Bettler.
Stechginsterblüte.
Schafe weiden
den Wind vom Meer ab.
Jbel Musa.
Windmühlen nehmen den Himmel
in Dienst.
Wir schauen vom Jbel Musa hinaus über die Meerenge Richtung Spanien, wo ein ähnlicher Felsen liegt, derselben Erde zugehörig, getrennt durch den Meereinbruch und trennend zwei Welten der Menschen: der Fels von Gibraltar.
Jbel Musa auf nordafrikanischer und der Felsen von Gibraltar auf europäischer Seite: Das sind die Säulen des Herakles.
Der griechische Dichter Pindar lässt in seinem Dritten Olympischen Gesang über den Sieg Therons im Wagenrennen den Chor enden: „Wenn am besten Wasser ist und Gold an Besitz, so kommt jetzt durch seine Leistungen Theron an die äußerste Grenze – er rührt an die Säulen des Herakles. Alles darüber hinaus ist Weisen und Unweisen unzugänglich. Wenn ich dem nachginge, wäre ich eitel.“ Das war im Jahr 476 vor unserer Zeitrechnung.
Hier, auf beiden Seiten der Meerenge von Gibraltar, soll der griechische Held das Ende der Welt bezeichnet haben, mit der Inschrift „Nicht mehr weiter“. Lateinisiert fand dieser Spruch als „Non plus ultra“ Platz im spanischen Wappen. Nach der Entdeckung Amerikas wurde er dort aber geändert in „Plus ultra“.
Die Phönizier allerdings, die Konkurrenten der Griechen, waren schon früher weiter gesegelt, hatten an der Atlantikküste des heutigen Marokko Stützpunkte errichtet. Sie nannten die beiden markanten Vorgebirge nach ihrem Sonnengott „Säulen des Melkart“. Lieder und Geschichten hatten sie sicherlich auch. Doch sie sind mit ihnen untergegangen.
Nach einer anderen, einer altgriechischen Geschichte, stützte hier, am westlichsten Punkt ihrer Welt, ein Titan das Himmelgewölbe. Es war Atlas. Wir kennen seinen Namen vom Atlasgebirge, von dem Jbel Musa ein Ausläufer ist.
Herakles, der griechische Held, sollte für seinen König drei goldene Äpfel besorgen, aus dem Garten der Hesperiden, das sind Nymphen der griechischen Mythologie. Zeus und Hera hatten die Äpfel zu ihrer Hochzeit von Gaia, der Erde, geschenkt bekommen und sie den Nymphen zur sicheren Aufbewahrung überlassen.
Herakles kam nach einigen Abenteuern an diesen Ort und überredete Atlas, in den Garten zu gehen und ihm die Äpfel zu bringen. Er übernahm derweil den Himmel auf seine Schultern.
Atlas brachte die Äpfel, wollte die Last des Himmels aber nicht mehr zurück.
Herakles gab schließlich scheinbar nach und bat nur darum, sich seine Schulter mit einem Kissen polstern zu dürfen, um die Last leichter tragen zu können. Atlas sollte dafür nur ganz kurz den Himmel halten. Der ließ sich darauf ein – und wurde mit dem Himmel auf dem Rücken stehen gelassen. Da steht er noch heute, als Atlasgebirge.
Herakles überreichte die goldenen Äpfel seinem König. Der verschenkte sie weiter an Athene. Und die brachte sie wieder in den Garten der Hesperiden zurück.
Felsen enden im Blau, das unberührbar scheint. Wo das Tragende sein soll, streicht eine Wolke. Ich nehme einen Apfel aus meinem Beutel und beiße hinein.
Wir rollen in das hochgesicherte Ceuta, die spanische Enklave in Nordafrika – und sehen Dutzende junger Männer, die versuchen, auf Lastwagen aufzuspringen, um über die Grenze zu kommen. Unser Bus rollt weiter – und bald sind wir mit der Fähre unterwegs nach Europa. So viele Hoffnungen bleiben zurück.
Fels von Gibraltar.
Hinterm Stahl des Fährendecks
muss der Himmel sein.
Hafeneinfahrt.
Eine Möwe dreht ab, fliegt zurück
übers Meer.