2014-12-01

Dezember 2014 bis Mitte Februar 2015


 

Im nassen Laub
ein zerrissenes Kartenspiel.
Atemwolken.

bei Ulm-Söflingen

 

Dezemberdunst,
sternlos. Das Lächeln
der Nachbarin.

 

***

 

Haiku zum Tod von Eva Maria Vasiljevic (1919-2014), dem Herz des Tübinger Literaturkreises; sie starb in ihrem Zimmer im Luise-Poloni-Heim.

Volle Regentonnen.
Der sterbenden Dichterin
Augen.

Vor dem Sterbezimmer
stiller die Welt – Regen
wird Schnee.

Tod im Winter.
Vor dem erleuchteten Horizont
eine Weide.

Nach dem Sterben –
in der Pfütze des Winterfelds
Licht.

 

***

 

Weihnachtsmarkt.
Im Dunkeln des leeren Lokals
tönt ein Klavier.

 

Treibjagd.
Nach dem Schuss noch immer
das Bellen der Hunde.

 

Durch die Bahnhofshalle
fliegt eine Taube.
Wintersonnenwende.

 

Lichterstube

Lichterstube –
das helle Murmeln der Helfer.
Heiligabend.

Die Obdachlosen, zu deren Freude an Heiligabend die Lichterstube gedacht ist, haben sich zwei Stunden vor Öffnung eingefunden, ihre Geschenke geschnappt und sind wieder in die Nacht verschwunden. In der Stube sitzen nun bei Kerzenlicht die Helfer und singen zusammen Weihnachtslieder.

 

Heimfenster.
Am Scherenschnitt einer Kerze vorbei
fällt Schnee.

 

Vor der Bibliothek
ein unbeschriebenes Blatt.
Schneetreiben.

 

Schneetreiben.
Am Rand erleuchteter Büros
ein Busbahnhof.

 

Am Brechthaus vorbei
stürzt Wasser
durch Schnee.

Augsburg

 

Fakten und Hypothesen

Unser Wissen besteht aus Fakten und aus bestätigten Hypothesen über Zusammenhänge und Hintergründe. Hypothesen von uns selbst oder von anderen, bestätigt von sehr vielen Menschen (Allgemeingut) oder von Fachleuten (Wissenschaft). Bestätigt durch Sinnesorgane (Alltagswissen) oder mathematische Ableitungen. Das ist alles fehlerbehaftet, kann sich also ändern. Aber es ist das Beste, was wir haben.

Dass die Sonne von einer bestimmten Stelle der Erde an einem bestimmten Morgen um soundsoviel Uhr aufgeht, ist ein Fakt. Dass sie am nächsten Morgen von derselben Stelle aus gesehen zu einer bestimmten anderen Zeit aufgehen wird, ist eine Hypothese. Da wir für sie eine gut bestätigte mathematische Ableitung haben, können wir den Zeitpunkt als Wissen einstufen.

Menschen erleben, dass die Sonne am Morgen aufgeht und am Abend versinkt. Sie erleben nicht das gut bestätigte Wissen, dass Sonnenaufgang und -untergang nicht durch die Bewegung der Sonne, sondern tatsächlich durch die Drehung der Erde zustande kommen.

Das Erleben des Sonnenaufgangs ist echt. Der Sonnenaufgang lässt sich auch messen. Wenn wir beim Fakt bleiben, gibt es keinen Widerspruch zwischen diesem Erleben und unserem Wissen. Ein Widerspruch kann nur entstehen, wenn wir aus dem Erleben Hypothesen ableiten. Etwa, dass sich die Sonne um die Erde dreht.

Das ist eine durch das Erleben sehr naheliegende Hypothese. Aber es gibt für die Erklärung des Hintergrunds noch andere, weniger wahrscheinliche Hypothesen. Und eine davon, dass sich die Erde um die Sonne bewegt und außerdem noch um sich selbst, und dass diese Eigendrehung für das Erleben des Sonnenauf- und untergangs verantwortlich ist, hat sich als richtig erwiesen. Auch die Hypothese, aus dem Erleben und den Sinnesorganen leicht ableitbar, dass die Erde groß und die Sonne klein ist, ist falsch. Die Erde scheint viel größer als die Sonne – aber nur, weil wir ihr sehr nahe sind und von der Sonne weit entfernt.

Wenn das Erleben bei sich selbst bleibt, gibt es also kein Problem. Probleme tauchen nur dann auf, wenn aus dem Erleben Hypothesen entwickelt werden, ohne diese angemessen zu prüfen.

Dass die Sonne ein Gott ist, kann eine Erfahrung sein, ein Erleben. Wissen ist es nicht, da dafür keine von vielen Menschen oder von Fachleuten bestätigte Hypothese zugrundeliegt.

Vielleicht ist es gerade der Sonnenaufgang, der das Erleben in Misskredit gebracht hat. Den Fakt (so kann man wohl sagen), dass sich die Erde um die Sonne und um sich selbst dreht, haben wohl alle Menschen akzeptiert. Und damit haben sie ein Bewusstsein davon entwickelt, dass das Erleben täuschen kann.

Tatsächlich ist es nicht das Erleben, das täuscht. Das Erleben ist immer wahr.

Täuschungen kommen durch falsche Schlüsse zustande. Das Erleben macht den Menschen aus. Es sollte nicht in Misskredit sein. Dazu ist es nötig, besser zwischen dem Erleben und den Schlüssen, die wir oft ganz unwillkürlich aus ihm ziehen, zu unterscheiden. Gibt es dafür ein „Rezept“?

 

Herzstechen.
Auf dem Schneeberg
der Dorn einer Burg.

Zugfahrt Tübingen – Sigmaringen

 

Glitzern
im Schnee. Ein Baum sticht
den Himmel.

Zugfahrt Tübingen – Sigmaringen

 

Durch die Leere
treibt Schnee. Die Wärme
der Zugmotoren.

Zugfahrt Tübingen – Sigmaringen

 

Weggablung
im Schnee. Durch mein Herz
bläst der Wind.

bei Beuron, Aufstieg zur Burg Wildenstein

 

Maurushöhle.
Rentierjägern gedenken,
am Ufer aus Schnee.

 Abstieg Burg Wildenstein nach Beuron, an der Donau

 

Kerzen für die Verstorbene
zwischen Kirchmauern, vom Schnee
nie berührt.

Beuron, Klosterkirche

 

Winternacht.
Über künstlichen Sternen
der Mond.

Reutlingen, Bushaltestelle ‚Unter den Linden‘

 

Vertrauen

Vertrauen kann ich niemandem, der bei Ursachenaufklärung und Analyse von Problemen an der Stelle stehen bleibt, die für ihn die günstigste ist. Der etwa die Flüchtlingsströme nach Europa auf ‚Schleuserbanden‘ fokussiert oder möglichst schwammig auf ‚Lebensbedingungen‘ in den Ursprungsländern, aber keinen Blick auf die Ursachen der „Lebensbedingungen“ in diesen Ländern wagt, sei es nun Syrien, das Kosovo, Afghanistan, den Irak, Libyen, Mali, die Ukraine, aus Angst hinter der Not womöglich auch die Gesichter seiner Arbeitgeber zu erkennen, die heute humanitäre Aktionen beraten und von Moral reden, aber diese Zustände verursacht haben und die genauso weitermachen und weitere Not verursachen werden.

Vertrauen kann ich niemandem, der behauptet, dass er Frieden wolle, der aber einen Krieg beginnt, ganz gleich, ob es ein Aufständischer ist oder ein Soldat, ein Regierungsmitglied oder ein Angestellter der vorbereitenden Medien. Selbstverständlich behauptet jeder, der einen Krieg beginnt, er habe ihn nicht begonnen, sondern der Gegner. Oder er habe ihn vielleicht begonnen, aber nur, weil der Gegner ihn dazu gezwungen habe, er habe nicht anders gekonnt. Oder er sei nur aus Gründen der Menschlichkeit eingeschritten. Ganz gleich wie geschickt oder ungeschickt solche Leute zu reden gelernt haben, vertrauen kann ich ihnen nicht.

Vertrauen kann ich niemandem, der sagt, dass er für die Freiheit kämpfe, der aber die Freiheit anderer behindert, ganz gleich ob er es im Namen eines Regimes tut oder im Kampf gegen ein Regime.

Vertrauen kann ich niemandem, der mit Freiheit der Presse die Freiheit zur Verleumdung und Beleidigung anderer oder zur Manipulation von Tatsachen und seiner Leser meint, der Meinung und Nachricht vermischt und über die Bearbeitung von Nachrichten Menschen zu manipulieren versucht, denn ich möchte durch die Medien informiert und nicht in eine Richtung geschoben oder erzogen werden.

Vertrauen kann ich niemandem, der behauptet, dass er für Vielfalt sei, der aber nicht die vorhandene Vielfalt meint, sondern eine eigene Vielfalt erfunden hat und andere Menschen diffamiert und verfolgt, die nicht zu seiner Vielfalt passen.

Vertrauen kann ich niemandem, der zur Verteidigung von ‚Werten‘ aufruft und, statt diese Werte selbst zu leben oder wenigstens klar zu benennen und nicht nur als Sprechblasen in den Himmel steigen zu lassen, die Verfolgung anderer Menschen mit anderen ‚Werten’ damit meint.

Vertrauen kann ich keinem Staat, der eine Geheimpolizei, Geheimgerichte und einen geheimen Nachrichtendienst unterhält. Ein Staat, der Staatsgeschäfte durch geheime Institutionen verschleiert, kann weder demokratisch noch republikanisch sein. Seine Repräsentanten können nicht fundiert beurteilt werden, er ist undurchsichtig und sehr wahrscheinlich verbrecherisch.

Vertrauen kann ich niemandem, der seine Maße wechselt, je nachdem, wen es zu messen gilt, der schon Gerüchten glaubt, wenn es gegen den ‚Feind‘ geht, der alles Handeln des Gegners nur zu dessen Nachteil auslegt, aber jedes Verbrechen sofort und selbstverständlich zu relativieren versteht, wenn es die eigene Seite begangen hat.

Vertrauen kann ich keiner Gruppe, die regiert. Vertrauen ist nur in Menschen möglich. Aber nicht in Menschen, die eine Gruppe hinter sich haben oder einer Gruppe als Aushängeschild dienen, denn das beeinträchtigt ihre Menschlichkeit.

Vertrauen kann ich niemandem, der sehr entschiedene und klare Ansichten hat. Denn er muss immer wieder die Realität verbiegen, damit sie zu seinen Ansichten passt.

 

***

„Es ist immer schade, wenn Menschen andere Menschen in Schubladen stecken und mit Etiketten versehen, denen diese gar nicht zustimmen. Noch schlimmer finde ich es, wenn ich sehe, wie Menschen sich selbst in Schubladen verstecken. Die eigene Schublade mag zwar, von ihnen eigen etikettiert, ein amtlich gutes Gewissen vermitteln, erscheint mir aber immer wie ein Akt der Selbstbegrenzung, ja Selbstverstümmelung.“

 

***

 

Sie will nur immer weinen und weinen, die Perlen zerrinnen im Gras.

„Was ist denn los?“, fragt die Kröte. Aber die Märchenprinzessin antwortet nicht.

„Der Wind hat ihren Schleier fortgeweht. Nun kann sie ihr Gesicht nicht mehr verbergen“, pfeift ein Spatz aus dem Apfelbaum.

„Du bist doch schön!“, tröstet die Kröte, „selbst nach den Maßstäben des feuchten Volks.“

„Und so wird sie zum Objekt aller Blicke. Hinter dem Schleier konnte sie noch einfach sie selbst sein“, behauptet der Spatz.

„Was ist ein Objekt?“, fragt die Kröte. „Bist du denn eines?“

„Natürlich, für jeden. – Aber mir ist es gleich.“ Der Spatz verschwindet im Himmel.

 

***

 

Alles ist schön

‚Alle Farben sind schön!‘ – behauptet ein Aufkleber an der Fußgängerampel.

Ich schaue mich um und wirklich: Je mehr ich mich auf diesen trüben, verregneten Wintertag einlasse, umso besser gefallen mir die Farben – selbst die trüben Tönungen, auch der Schmutz letzter Blätter, das traurige Efeugrün, das Grau des Himmels, alles ist eigentlich schön. Allerdings durchaus verschieden schön.

Die Farben der Menschen verstärken diesen gemischten Eindruck noch: Den Anstrich dieser Kirche, die gelben Streifen am Altersheim, wahrscheinlich gewählt, um irgendwie jung und fröhlich zu wirken, nein, schön finde ich die nicht.

‚Alle Farben sind schön!‘ Wer den Aufkleber anbrachte, hat sich nicht umgeschaut. Schon diese Absolutheit der Behauptung. Das geht doch von der realen Erfahrung weg, versucht dem Erleben etwas vorzuschreiben. Dem Erleben anderer Leute.

Der Aufkleber will keine reale Erfahrung, er ist politisch, ist das Erzeugnis von Ideologie. Von schlechter Ideologie. (Gibt es gute?)

‚Alle Farben sind nötig, damit die Welt schön ist.‘ Schon besser, finde ich. Die Vielfalt betonen, die man zum Leben braucht. Weiß allein macht schneeblind. Und Schwarz womöglich depressiv.

Aber es ist immer noch eine Behauptung, immer noch eine Theorie, die das Erleben leiten soll, die also womöglich manipulieren will.

‚Alle Farben!‘ Einfach bei der Wahrnehmung bleiben. Mehr nicht. Das gefällt mir am besten.

Aber versteht man das noch? Stünde auf dem Aufkleber ‚Alle Farben‘, hätte ich dann über ihn nachgedacht?

Vielleicht muss die Wahrheit immer ein wenig leiden, zum Zweck der Verständlichkeit.

Die Schönheit im Glanz
eines Ölflecks.
Winternieseln.

 

Vorhänge klingenden Schnees –
die Farben
der Vogelpfiffe.

Wanderung Bad Wildbad – Grünhütte

 

Treibender Schnee.
Die Möglichkeit
einer Heimat.

Wanderung bei Bad Wildbad, Weg Grünhütte – Wildsee

 

Schneetreiben
über das Hochmoor. Die Spuren derer,
die vor uns gingen.

Wanderung bei Bad Wildbad, Weg Grünhütte – Wildsee

 

Tanzender Schnee.
Die Stille des Herzens
wird heller.

Wanderung Wildsee – Bad Wildbad

 

Schneeflocken fallen.
Die Gleichgültigkeit
alles Daseins.

Wanderung Wildsee – Bad Wildbad

 

Wahrheit in der Logiktabelle

„Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung, aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wiederum eine tiefe Wahrheit sein“ (Niels Bohr).

Was sind Behauptungen in diesem Sinne? Tatsachen-Behauptungen offenbar.

Wenn ich einen blauen Mantel sehe (Tatsache) und behaupte: „Dieser Mantel ist rot“, dann stelle ich eine falsche Behauptung auf. Wenn ich einen blauen Mantel sehe (immer noch Tatsache) und behaupte: „Dieser Mantel ist nicht blau“, ist das, logisch betrachtet, ebenfalls eine falsche Behauptung.

Meine Reaktion, die eines lebenden Menschen, ist aber eine andere als auf die erste Behauptung, nämlich Verwirrung. Der offensichtliche Widerspruch zwischen dem, was ich sehe und dem, was behauptet wird, bringt mich in diesem Fall dazu, darüber nachzudenken, unter welcher Perspektive die Aussage denn wahr oder zumindest sinnvoll sein könnte. Philosophisch neige ich dazu, sie als ein Gesprächsangebot zu akzeptieren.

Bei der ersten Aussage, obschon gleichfalls ein Widerspruch zwischen dem, was ich sehe und dem, was behauptet wird, denke ich nur daran, dass jemand Farben oder Wörter für Farben verwechselt oder mich veräppeln will. Warum reagiere ich bei der zweiten Behauptung viel vorsichtiger?

Zum einen gibt die zweite Behauptung die ‚richtige‘ Farbe, nämlich blau, vor. Sie nennt sie, behauptet aber, dass sie nicht vorliege. Also scheidet eine bloße Verwechslung aus. Zudem ist das Wort ‚nicht‘ recht anspruchsvoll. Auszusagen, etwas liege ‚nicht’ vor, erfordert eine höhere intellektuelle Leistung, als von allen möglichen Dingen zu behaupten, dass sie vorliegen – außer natürlich, wenn sie nicht vorliegen. Aber das bestätigt meine Behauptung bloß, zum Veräppeln passt das nicht. Deshalb die Suche nach Alternativen des Verstehens, durch eine Erweiterung des Rahmens, in dem nach einem Sinn der Aussage gesucht wird.

Zwei logisch gleichermaßen falsche Aussagen werden also dadurch, dass ich Umgebungsvariablen berücksichtige, dass ich sie nicht isoliert sehe, sondern ihre Einbettung in der Welt würdige, zu zwei unterschiedlichen Aussagen, von denen die eine ‚falsch‘ ist und die andere herausfordernd.

Wenn das Feld der Logik-Tabelle für Tatsachen-Behauptungen als ein zweidimensionales aufgefasst werden kann, dann brächte die Berücksichtigung einer Einbettung von Tatsachen in die tatsächlich existierende Welt vielleicht eine dritte Dimension hervor. Das muss die Dimension sein, in der weniger von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ als vielmehr von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ die Rede sein kann. Eine Dimension, in der zwei Aussagen zur selben Tatsache, von denen die eine ‚richtig‘ und die andere ‚falsch‘ ist, sich nicht widersprechen müssen, sondern beide gleichermaßen ‚wahr‘ sein können. Eine Dimension, in der sich zwei Aussagen widersprechen können, aber dennoch von gleicher ‚Tiefe‘ sind.

Das ist die Welt, in der wir tatsächlich leben.

Auf der Tafel –
zwischen Zeichen aus Kreide
erscheinen Sterne.

PS: Ich schreibe ‚Logiktabelle‘ und meine damit die Wahrheitstabelle für logische Aussagen. Die Bezeichnungen dort sind, im zweiwertigen Fall, w für ‚wahr‘ und f für ‚falsch‘. Das ist aber falsch. Es muss eigentlich r für ‚richtig‘ und f für ‚falsch‘ heißen. Und der Name muss Logiktabelle oder Richtigkeitstabelle lauten. Die Wahrheit ist in der Logik ein Missverständnis.

Niels Bohr ist zitiert nach: Herbert Pietschmann (1992): Exakte Wissenschaft und Bewußtsein. In: Giselher Guttmann & Gerhard Langer (Hg) (1992): Das Bewußtsein. Springer-Verlag, Wien, 49-63 (dort auf Seite 53).

 

Purzelbäume

„Die menschliche Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Kriegen“, lese ich.

Stimmt.

Die menschliche Geschichte ist allerdings auch eine Aneinanderreihung von Purzelbäumen. Wer die Zeit hinunter schaut, wird Kinder purzeln sehen.

Und die Geschichte des Planeten Erde ist eine Aneinanderreihung ziehender Wolken.

Die Frage ist weniger, was aneinander gereiht wird, sondern welche Bedeutung die Ereignisse für die jeweilige Kette haben.

Gäbe es Bedeutungs-Fenster, wir wären überrascht. Womöglich war der bisher wichtigste Moment der Menschheitsgeschichte, als vor 42.420 Jahren, vier Monaten und zwei Tagen ein Kind im Traum einem Schmetterling zuwinkte.

 

Losgerissen
vom Schneeufer – flussabwärts treiben
zwei Schwäne.

 

Das rationale Denken

„Mit Hilfe des rationalen Denkens die Wirklichkeit entdecken zu wollen ist Illusion. Nichts zu denken und die Wirklichkeit sehen ist Gewahrsam.“ (Bodhidharma zugeschrieben)

Unterschreiben möchte ich das nicht. Das Verhältnis zwischen Denken und Wahrnehmen ist allerdings interessant.

Bei Ernst von Glasersfeld, einem radikalen Konstruktivisten, lese ich: „[…] unsere Sinnesorgane ‚melden‘ uns stets nur mehr oder weniger hartes Anstoßen an ein Hindernis, vermitteln uns aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie stoßen. Diese Eigenschaften stammen ganz und gar aus der Art und Weise, wie wir die Sinnessignale interpretieren.“ Und: „Wir bauen uns unser Weltbild aus Signalen auf, die aus Berührungen mit Hindernissen der Umwelt stammen. Diese Signale werden zu Gegenständen verbunden.“

Wahrnehmung wird danach durch ‚Denk‘-Tätigkeit bestimmt. Der Unterschied zwischen dem rationalen Denken und unserer Wahrnehmung ist nicht so grundsätzlich, wie er zunächst scheint. ‚Gedacht‘ wird bei beidem.

Dem rationalen Denken fehlt auf sich selbst gestellt womöglich sogar etwas die Bodenhaftung. Erst die Wahrnehmung bringt diese ein, indem sie eben das ‚Anstoßen‘ an Hindernisse in der realen Welt registriert. Die Welt, die Wahrnehmung der Welt, bringt damit Störung in die Arbeit des Denkens hinein. Dessen Bemühen es ist, diese Störung in Erkenntnis zu transformieren und als Wissen zu integrieren.

Was für eine Art Denken liegt unserer Wahrnehmung zu Grunde? Vielleicht darf man es im Unterschied zum rationalen Denken evolutionäres Denken nennen. Das Denken, das sich mit der Ausgestaltung und dem Erfolg unserer Wahrnehmung entwickelt hat und uns heute noch in allen Belangen des Alltags leitet, auf das unser Bewusstsein zurückgreifen kann, das aber aus nicht bewussten Quellen stammt. „[…] die Klugheit der Zunge z. B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins“, schreibt Nietzsche dazu.

Das rationale Denken ist noch sehr jung. Und erfolgreich. Und entsprechend von sich eingenommen. Auch wenn es erst in der Pubertät sein sollte, bringt es doch etwas in die Welt hinein, das so noch nicht da war. Ein Hoch also auf das rationale Denken und seinen 13. Geburtstag! Und wer weiß, in ein oder zwei Millionen Jahren wird es vielleicht auch die Bescheidenheit gelernt haben, die allem in dieser vielfältigen Welt gut ansteht, und sich als eines unter Vielem sehen.

Vielfalt bringt mit sich, dass Fertigkeiten auf unterschiedliche Herausforderungen unterschiedlich gut ‚passen‘. Die Stärke des rationalen Denkens scheint mir im Entwurf übergeordneter Handlungsregulation zu liegen. Ich werfe den Müll nicht auf die Straße, weil die Stadtverwaltung rational denken kann und eine solche Handlung mit Strafe bedroht. Die Entdeckung der Wirklichkeit, ist die mehr dem rationalen Denken oder dem Achten auf unsere evolutionär gefütterte Wahrnehmung zuzutrauen?

Ein Mann steht am Meer. Kommt er eher mit Halbschuhen oder mit Sandalen ans andere Ufer? Die Meinungen darüber könnten auseinandergehen.

Das Zitat am Anfang ist aus: ‚Über das Aufwachen‘. [Bodhidharma zugeschrieben.] Aus: Bodhidharmas Lehre des Zen. Frühe chinesische Zen Texte. Übersetzt aus dem Chinesischen und mit einer Einführung von Red Pine. Theseus, Zürich & München, 1990 (US-amerikanisches Original 1987), 49-65, Seite 51.

Die Zitate von Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Gumin, H. & A. Mohler (Hg) (1985): Einführung in den Konstruktivismus. Oldenbourg, München, 1-26. Zitate auf Seite 11 und 12.

Sowie: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 9, Seite 445 (Notiz aus Frühjahr – Herbst 1881).

 

Unerkennbare Wirklichkeit

Wird in der Achtsamkeits-Meditation tatsächlich die ‚Wirklichkeit‘ ‚entdeckt‘ oder ‚gesehen‘? Ein Gefühl davon kann sich einstellen. Gefühle können uns allerdings täuschen.

Um festzustellen, ob die ‚Wirklichkeit‘ entdeckt wird, müssten wir wissen, was die ‚Wirklichkeit‘ ist, sie mit dem vergleichen, was in der Meditation ‚entdeckt‘ oder ‚gesehen‘ wird und feststellen, dass es keinen Unterschied gibt.

Einen anderen unmittelbaren Zugang zur ‚Wirklichkeit‘ als unser Gefühl, das solches behauptet, haben wir allerdings nicht. Es ist also prinzipiell unmöglich festzustellen, ob das Gefühl die ‚Wirklichkeit‘ entdeckt oder gesehen zu haben, auf Realität basiert oder nicht.

Wenn in der Meditation die Empfindung aufsteigt, die ‚Wirklichkeit‘ zu sehen, ist da allerdings diese Empfindung. Die eine Differenz mitteilt zwischen dem, was ich in der Meditation gerade erlebe und der Sichtweise der ‚Wirklichkeit‘, die ich sonst habe.

So erfolgt eben doch eine Befreiung des Geistes. Aber nicht durch eine Rückführung zu einem ‚ursprünglichen Geist‘, den wir nicht kennen können, oder einen Durchbruch in die ‚Wirklichkeit‘, die prinzipiell unerkennbar ist. Sondern indem wir erkennen, dass verschiedene Weltsichten möglich sind. Und dass es schwer oder unmöglich ist, von der einen zu sagen, sie sei die ‚richtige‘ und von den anderen, sie seien ‚falsch‘ – eben weil uns der Vergleich mit der ‚Wirklichkeit‘ fehlt. Das erleichtert uns den Versuch, nicht an der einen, alltäglichen Weltsicht zu haften. Unser Verständnis der Welt kann sich öffnen, kann weiter werden.

‚Richtig‘ oder ‚falsch’ hinsichtlich einer unerkennbaren ‚Wirklichkeit‘, das lässt sich nicht entscheiden. Wohl aber: Gut oder schlecht für mein Leben.

 

Aus dem Dunst
schälen sich Kräne. Mein unfertiges
Herz.

Zugfahrt Tübingen – Frankfurt Flughafen

 

Alle Texte und ihre Rechte soweit nicht anders vermerkt von Volker Friebel, Tübingen.