Kreativität und Künstliche Intelligenz

Essay von Volker Friebel

 

Die Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) ist in Bewegung geraten – und zwar in einem Bereich, in dem es am wenigsten erwartet wurde, in der Kreativität.

Chinas erste virtuelle Studentin, eingeschrieben an der Tsinghua-Universität in Beijing, kann „Gedichte schreiben, Musik komponieren und Gemälde malen. Sie verfügt auch über die Fähigkeiten, Gedankengänge zu konstruieren und emotional zu interagieren“. (1)

Erste Studien zur Unterscheidung von KI-generierter und menschengemachter Kunst (abstrakte sowohl als auch gegenständliche Malerei) fanden schon vor Jahren, dass mindestens Laien, aber auch Kunststudierte, kaum in der Lage sind, die Urheberschaft richtig zuzuordnen. Und dass Menschen KI-generierter Kunst gegenüber voreingenommen sind. (2)

Studie zu KI-generierten Haiku

Eine Studie der Kyoto-Universität widmete sich KI-generierten Haiku.(3) 40 Haiku von Dichtern wie Kobayashi Issa und Takahama Kyoshi wurden einem Saijiki (Jahreszeitenwörterbuch) entnommen. Weitere 40 wurden durch eine spezialisierte KI erzeugt. Und zwar wurden 20 dieser 40 nach Zufall aus einer größeren Menge computer-generierter Haiku ausgewählt, die anderen 20 dagegen durch drei Menschen ausgesucht.

In einer Online-Befragung bewerteten 385 Menschen diese Haiku nach verschiedenen Kriterien. Wichtigste der 21 abgefragten Dimensionen war „Schönheit“. Die KI-generierten, aber von Menschen ausgesuchten Haiku erreichten die höchste Punktzahl an Schönheit. Die Zufallsauswahl von Haiku aus dem Computer und die von menschlichen Haiku-Dichtern lagen gleichauf.

Die Teilnehmer schätzten außerdem zu jedem Haiku ein, ob sie es als von einem Computer oder von einem Menschen geschrieben betrachten. Diese Unterscheidung gelang ihnen nicht.

Je schöner ein Haiku eingeschätzt wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass es, richtig oder falsch, als von einem Menschen erstellt beurteilt wurde. Bildung hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Unterscheidungsfähigkeit – doch konnten Menschen mit Vorkenntnissen zum Haiku besser zwischen KI- und menschengemachten Haiku unterscheiden. Der häufigste Anhaltspunkt für die Beurteilung eines Haiku als von Menschenhand geschrieben war die „Tiefe des Werks“.

Die Autoren der Studie halten fest, dass die Qualität von KI-generierten Haiku ein Niveau erreicht hat, das mit dem von Menschen vergleichbar ist. Und sie meinen, dass die Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI kreativere Kunstwerke hervorbringen könnte.

ChatGPT

Seit November 2022 öffentlich zugänglich ist das KI-Programm ChatGPT (5) – und es hat seither für einigen Wirbel gesorgt. Das Programm erstellt in Interaktion mit dem Nutzer beliebige Texte, es kann Gespräche führen, Aufsätze schreiben – und dichten. Die Texte sind oft nicht von den Texten menschlicher Autoren zu unterscheiden. Das „Handelsblatt“ (4) zitiert, dass die Leistungen von ChatGPT beim Beantworten von Fragen ausreichen, um an einer US-amerikanischen Universität das Examen zum „Master of Business Administration“ zu bestehen – und zwar mit der Note „Zwei minus“.

Die vom Programm erzeugten Haiku sind bisher eher mittelmäßig. Das wird sich aber sicher noch ändern. Beispiel einer Interaktion:

Volker Friebel, Mo. 10.04.2023, 11:47 Uhr.
Bitte schreibe ein Haiku über Vergänglichkeit mit den Begriffen „Frühlingswind“ und „Magnolien“.

ChatGPT:

Frühlingswind weht sanft,
Magnolienblüten fallen,
Vergänglichkeit spürbar.

Deutlich besser sieht es etwa bei Haiku-Besprechungen aus.

Volker Friebel, Mo. 10.04.2023, 11:55 Uhr.
Bitte interpretiere das Haiku von Volker Friebel:

Im schaukelnden Kahn
ein Liebespaar – Wellenkreise
ringsum.

ChatGPT: Das Haiku von Volker Friebel beschreibt eine romantische Szene auf einem schaukelnden Kahn. Ein Liebespaar befindet sich auf dem Boot und die Wellen, die durch das Schaukeln des Kahns entstehen, ziehen Kreise um sie herum. Das Haiku thematisiert somit das Thema der Liebe und der Zweisamkeit in der Natur. Durch die Wahl des Settings – einem schaukelnden Kahn auf dem Wasser – wird eine idyllische Stimmung erzeugt, die die Zweisamkeit des Paares betont. Die Wellen, die Kreise ziehen, können dabei als ein Symbol für die Liebe verstanden werden: Wie die Kreise, die sich immer weiter ausbreiten, kann auch die Liebe eines Paares immer weiter wachsen und sich ausdehnen. Gleichzeitig kann das Haiku aber auch als ein Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens und der Liebe interpretiert werden: Wie die Kreise der Wellen irgendwann abebben und verschwinden, so kann auch die Liebe eines Paares irgendwann enden.

Mehrere weitere Firmen haben derartige Sprachprogramme angekündigt. KI lernen. Es ist offensichtlich, dass KI-generierte Texte sowohl unser Bildungssystem als auch die Arbeitswelt verändern werden.

Selbstverständnis des Dichters

Menschen neigen dazu, KI-generierte Kunst oder Dichtung abzuwerten und menschliche Kreativität vorzuziehen. Auch wenn sie zwischen den Produkten von Menschen und KI nicht unterscheiden können.

Das dürfte kaum haltbar sein. Wenn von Menschen gemachte Bilder, Musik oder Verse aber bald hinter den entsprechenden Produkten von KI zurückstehen, was bleibt uns dann?

Ein Rückzug auf das Gefühl kann es nicht sein. Tatsächlich wird Emotionalität leichter zu programmieren sein als intellektuelle Tiefe. Persönlichkeit? Die Geschichte unserer Leben als Hintergrund unserer Dichtung? Wird Dichtung wieder persönlicher werden, wenn es die literarische Qualität schon bald allein nicht mehr sein kann? Wird menschliche Individualität und Irrationalität mehr betont, im Angesicht der implantierten Filter und Regelwerke der KI?

Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen ist unumgänglich.

Dass Maschinen Menschen Arbeit abnehmen, wird akzeptiert, auch wenn es zunächst Probleme mit sich bringen kann. Diese Probleme sind lösbar. Was aber, wenn Maschinen uns im künstlerischen und dichterischen Ausdruck überflügeln? Provozierend gefragt: „Hat der Mensch nur als Müßiggänger und Konsument eine Zukunft, von Maschinen umgeben, die ihn versorgen?“ (6)

Hinweise

Dieser Essay erschien in: Sommergras – Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, Juni 2023, Nummer 141, Seite 18-22.

1 German.China.Org.cn, Redaktionsbeitrag (2021): Chinas erste virtuelle Studentin feiert Debüt. http://german.china.org.cn/txt/2021-06/03/content_77546337.htm (Abruf 05.06.2021).

2 Chamberlain, Rebecca; Caitlin Mullin, Bram Scheerlinck & Johan Wagemans (2018): Putting the art in artificial: Aesthetic responses to computer-generated art. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 12(2), 177-192.

3 Hitsuwari, Jimpei; Yoshiyuki Ueda, Woojin Yun, Michio Nomura (2022): Does human–AI collaboration lead to more creative art? Aesthetic evaluation of human-made and AI-generated haiku poetry. Computers in Human Behavior, 139, Article 107502.

4 Thomas Jahn (2023): Wie die KI von OpenAI funktioniert. Handelsblatt, Online-Version: https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/chatgpt-wie-die-ki-von-openai-funktioniert/28941524.html (Abruf 12.03.2023).

5 Adresse des Programms: https://chat.openai.com/ Zur Nutzung ist eine Anmeldung erforderlich, Postadresse und Telefon müssen angegeben werden.

6 Aus einem Essay über dasselbe Thema mit anderem Schwerpunkt, Kritik und Ausblick: Volker Friebel (2023): Gutenbergs Schatten. Computer-generierte Haiku. https://www.haiku-heute.de/archiv/friebel-2023-gutenbergs-schatten-computer-generierte-haiku/

 


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