Charakterisierung des Haiku
von Volker Friebel
Als ich in den sechziger Jahren Haiku zu lesen und zu schreiben begann, verbrachte ich etliche Wochen in einem Rausch. Ich sah, dass die Welt ihre Gedichte vergessen hatte: Sie lagen als Kiesel am Wegrand, wuchsen dort als Gras.
Hubertus Thum
Das Haiku hat sich in Japan vor ungefähr 500 Jahren aus der Kettendichtung (Renga) entwickelt. Damals trafen sich Dichter in geselliger Runde zum Schreiben etwa eines Kasen, eines 36-gliedrigen Kettengedichts, das festgelegten Themen und Verknüpfungsregeln folgte. Der erste Vers (das Hokku) wurde üblicherweise vom Leiter einer Zusammenkunft verfasst und meist wohl schon zum Treffen mitgebracht. So lässt sich gut vorstellen, wie mancher Dichter durch Wald und Flur streifend eine ganze Sammlung möglicher Anfangsverse anhäufte. Dieser Vers verselbstständigte sich schließlich als eigene literarische Form. Erster bedeutender und bis heute in Japan bedeutendster Autor dieser Form war Matsuo Bashô (1644-1694), aber erst Masaoka Shiki (1867-1902) prägte den Namen Haiku für dieses Gedicht.
Das Haiku ist kurz. Die japanische Sprache basiert auf Lauteinheiten (Moren) gleicher Länge. Traditionelle japanische Haiku halten meist ein festes Schema solcher Lauteinheiten ein, geschrieben von oben nach unten in einer Spalte, wobei meist zwei Zäsuren erkennbar sind, der Text sich damit in drei Abschnitte von fünf, sieben und wieder fünf Lauteinheiten gliedert. Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich auch freie Formen entwickelt, die ohne eine feste Gliederung nach Lauten bestehen. Die Kürze blieb beibehalten, sie ist auch bei der Übertragung ins Deutsche das wichtigste Merkmal. Die japanische Zählung der Lauteinheiten lässt sich allerdings nicht einfach auf deutsche Silben übertragen, da diese von wechselnder Länge sind und oft aus mehreren Moren bestehen (17 japanische Lauteinheiten entsprechen etwa 10 deutschen Silben). Nach verschiedenen Versuchen, ein ähnlich festes Schema in europäischen Sprachen zu finden, werden heute Haiku in westlichen Ländern meistens in freien Versen geschrieben, fast immer dreizeilig, mit etwa 10 bis 17 Silben, ohne Endreim.
Das Haiku ist konkret und gegenwärtig. Es drückt fast immer ein beobachtbares Geschehen oder ein sinnenhaftes Erleben des Augenblicks aus. Gedanken oder Vorstellungen oder allgemeine zeitlose Betrachtungen werden im Haiku kaum thematisiert. Haiku konzentrieren sich also auf die Wahrnehmung einer übersehbaren Zeiteinheit, nicht auf Fantasien. Wenn gelegentlich von Vergangenheit oder Zukunft die Rede ist oder wenn reflektiert wird, vergegenwärtigt sich dies am konkreten Ort und in einer bestimmbaren Zeit. Häufig werden zur Herstellung dieser Gegenwärtigkeit Jahreszeitenwörter (Kigo) verwendet, Kirschblüten etwa, Walpurgisnacht, Astern, Eisblumen, Bratapfel.
Das gelungene Haiku sagt nicht alles. Die Offenheit der Bilder, ihr Nachklang und der Verzicht des Verfassers auf Deutungen und Reflexionen, schaffen Raum für die Assoziationen des Lesers. Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen sind auch in den meisten westlichen Gedichtformen wichtig, in vielen Haiku haben sie einen einzigartigen Stellenwert.
Kürze, Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Offenheit, das also sind die wichtigsten Merkmale des Haiku. Nach dem Vorbild französischer Übertragungen fand das Haiku schon in den 1920er Jahren Eingang in die deutsche Literatur, mit Versuchen von Franz Blei, Yvan Goll und Rainer Maria Rilke. Lange Zeit führte es ein Schattendasein und galt als exotisches Spiel. Das hat sich geändert, es ist bei uns heimisch geworden. Heute ist das Haiku fast über die ganze Welt verbreitet und auch im deutschsprachigen Raum eine zunehmend akzeptierte Gedichtform.
Wie sich die Welt darbietet, in allen Facetten, wie sie etwas von ihrem durch eingefahrene Weisen der Wahrnehmung und des Erlebens verschütteten Wesen aufschimmern lässt, in den gewöhnlichen und alltäglichen Gegenständen und dem, was sich fortwährend ganz unspektakulär einfach ereignet, das können wir im Haiku erleben – ob im überfüllten Zug oder unter dem Baumhaus, ob vor den Einmachgläsern in der Vorratskammer oder Pixel vor Augen nach Feierabend am Bildschirm, oder einfach am Wegrand, bei Kiesel und Gras.
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