Fantasiereise für Kinder
Mach es dir bequem und schließ deine Augen …
Jemand hat vergessen, die Terrassentür zu schließen. So steht sie nun einen Spalt weit offen. Frische Luft strömt herein – und Amselgesang …
Auf dem Sofa sitzt Ritter Blech. Er öffnet ein Auge … Er ist ganz still. Nichts regt sich. Außer dass eine neue, noch schöneren Strophe des Amselliedes beginnt … Außer dass ein weiterer frischer Windstoß hereinströmt … Da bewegt Ritter Blech einen Arm – und öffnet das andere Auge. Er blinzelt einmal … Dann bewegt er auch den anderen Arm … Er schiebt sich nach vorn, an den Sofarand – und springt auf den Boden …
Wieder blinzelt er und schaut sich um … Niemand zu sehen … Ritter Blech geht mit langsamen, schweren Schritten zur Terrassentür … Er schaut in den Garten hinaus … Auf dem blühenden Apfelbaum sitzt die pfeifende Amsel … Spatzen tschilpen aus der Hecke zum Nachbargarten …
Ritter Blech öffnet die Türe noch weiter und zwängt sich hindurch … Die Empfindung der Steinplatten unter seinen Füßen … Und nun das Gras der Wiese …
Eine Biene schwirrt durch die Luft, direkt an dieser Nase aus Blech vorbei … Ritter Blech ist stehen geblieben und schüttelt sich … Die Biene ist schon wieder im Himmel verschwunden …
Dann geht Ritter Blech weiter, zum Baum mit der Amsel. Er mag den Amselgesang so sehr … Aber als er ankommt, fliegt die Amsel fort …
„So, so“, brummt Ritter Blech. „Die kleine Biene hat keine Angst vor mir, die Amsel aber hat Angst – obwohl sie doch viel größer ist!“
Ritter Blech wedelt ein paarmal mit den Armen, ob auch er fliegen kann. Aber der Himmel trägt ihn nicht … Brummend geht er weiter …
„Wie kommt es, dass die dumme kleine Amsel fliegen kann, ich aber nicht?“, fragt er sich. „Vielleicht, weil sie Angst hat. Vielleicht kann alles fliegen, das Angst hat!“
Doch dann erinnert er sich an Sarah, die neulich geschrien hat, als sie eine Spinne in ihrem Zimmer sah. Geflogen ist sie aber nicht.
„Vielleicht kann alles fliegen, das Federn hat“, überlegt Ritter Blech nun. Das ist schon besser, denn er und Sarah haben keine Federn und können beide nicht fliegen. Und die Spatzen haben Federn und fliegen vielleicht sogar noch besser als die Amsel!
Ritter Blech berührt den Stamm des Apfelbaums. Er fühlt sich angenehm rau an. Ritter Blech schließt die Augen und gibt sich ganz dieser Empfindung hin …
Als er die Augen wieder öffnet, schaut er direkt in die Augen von Mika, dem Kater. Was für ein Schreck! Aber Mika steht einfach nur da und schaut ihn an. Und Ritter Blech sagt gar nichts und schaut Mika an …
Nach einer Weile hat Mika das Interesse verloren und schleicht weiter. Unter dem Zaun zwängt er sich in Nachbars Garten. Dort verschwindet er zwischen den Büschen …
Die Amsel hat wieder zu singen begonnen. Sie sitzt nun auf dem Dach des Nachbarhauses. Ritter Blech aber ist müde geworden. Langsam geht er zurück. Das weiche Gras der Wiese … die Steinplatten der Terrasse … die Terrassentür … Über ein Kissen und den Stapel aus Zeitschriften klettert Ritter Blech auf sein Sofa.
„Wie schön ist es hier!“, seufzt er, als er sich zurücklehnt und die Augen schließt … Schon ist er eingeschlafen – und hört die Menschenstimmen nicht mehr.
„Weißt du, wo Ritter Blech ist?“, ruft Sarah.
„Aber da sitzt er doch, auf dem Sofa“, sagt die Mutter.
„Komisch, vorhin war er nicht da“, behauptet Sarah.
„Du wirst nicht richtig geschaut haben“, meint die Mutter. Sie gehen zusammen hinaus. Ritter Blech aber streckt sich noch einmal und überlässt sich dann ganz seinem Traum …
Und nun kommt die Fantasiereise langsam zum Ende … Öffne die Augen … Atme tief durch … Reck dich und streck dich …
Diese Fantasiereise stammt aus dem Buch: Volker Friebel (2022): Mit Fantasiereisen durch das Jahr. Achtsamkeit, Entspannung und Kreativität für Kinder. Edition Blaue Felder, Tübingen. Papierbuch und eBuch. Enthält überarbeitet den Text des Buchs „Mit Traumreisen durch das Jahr“ von 2015.
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