Die Müllerskatze

Ihr Weg führt zwischen hohen Bäumen. Hofmeister Grille springt auf die Schulter des Prinzen und erklärt ihm die Welt.

„Was du da hörst, sind Vögel“, schnarrt er.

„Wir haben einen Vogel im Schloss gehabt, in einem Käfig“, sagt Prinz Theo. „Er sang auch manchmal.“

„Deshalb fingen die Menschen den Vogel und sperrten ihn ein“, schnarrt Hofmeister Grille. „Dass er für dich singt. Dass du ihm zuhören kannst und nicht selbst singen musst.“

„Ich singe aber gern selbst! Der Käfig war dem Vogel sein Haus, kein Gefängnis. Erwachsene sind so dumm“, sagt Prinz Theo.

„Kinder sind so dumm“, behauptet Hofmeister Grille, „sie wollen Erwachsene werden. – Was du da siehst, ist Wald“, setzt er fort.

Prinz Theo geht den Pfad zwischen Bäumen. Prinz Theo spürt, wie die Bäume zusammen etwas bilden, das mehr ist, als sie selbst. Das muss der Wald sein. Das muss das Spiel von Licht und Schatten sein und der weite Raum in diesem Spiel, durch den Käfer fliegen, den alles atmen kann.

Die Bäume bewegen sich leicht im Wind. Ihr Holz knackt. Sie machen eine Weite um sich, weiter noch als der Spiegelsaal des Schlosses. „Die Bäume könnten meine Freunde sein“, sagt Prinz Theo.

Hofmeister Grille erklärt ihm den Nutzen des Waldes für Möbel und Feuerholz. Er erklärt ihm, wie Holzfäller Bäume fällen. Er erzählt ihm von den Schwertransportern, die die Bäume zur Sägemühle bringen und wie die Sägemesser sie dort in Bretter zerteilen. Über die Möbelwerkstatt erzählt er und über die Läden mit Kinderspielzeug.

Prinz Theo hört halb zu, halb lauscht er den Stimmen des Waldes.

Der Pfad ist zum Weg geworden. Sie kommen an den Bach und die Mühle.

„Das ist keine Sägemühle“, nimmt Hofmeister Grille eine Frage von Prinz Theo auf, bevor der sie sprechen kann. „In dieser Mühle wurde früher das Korn von den Feldern gemahlen.“

Ein Mühlrad dreht sich. Prinz Theo ist stehen geblieben und schaut ihm zu.

Nach einer Weile bemerkt er, dass er selbst beobachtet wird. „Wer bist du?“, fragt er die Katze auf dem Steg übern Bach.

„Müller heiß ich, Wanderer“, schnurrt die Katze.

„Das ist Prinz Theo, nicht bloß ein Wanderer“, fährt Hofmeister Grille die Katze an. „Das ist kein Müller, bloß eine Müllerskatze“, schnarrt er dann ins Ohr des Prinzen.

„Wer wandert, ist ein Wandersmann“, schnurrt die Katze und setzt fort: „Der alte Müller lebt nun in der Stadt. Und ich lebe hier, so bin ich Müller geworden.“

„Und wer mahlt das Korn?“, fragt Hofmeister Grille. „Du vielleicht?“

Aber die Katze ist schon um die Ecke verschwunden.

Prinz Theo setzt sich auf eine Wurzel der alten Eiche an der Mühle. Hofmeister Grille springt auf seine offene Hand und sieht ihn an.

Eine Weile schweigen sie einfach. Prinz Theo denkt zurück an das Schloss und die Flucht. Er ertappt die eine oder andere Träne, die über seine Wangen strömt und zu Boden tropft. Prinzentränen. Hofmeister Grille seufzt tief.

„Heute beginnt ein anderes Leben“, schnarrt er dann. „Das Spielzimmer liegt hinter uns. Wir werden den König suchen, er muss unser Königreich zurück erobern.“

„Und wenn wir ihn nicht finden?“, fragt Prinz Theo. „Und wenn er erobern nicht kann?“, setzt er gleich dazu und denkt an das feine Gesicht seines Vaters.

„Dann suchen wir uns ein anderes Königreich“, schnarrt Hofmeister Grille.

Sie richten sich notdürftig ein Lager unter dem Baum und legen sich hin. Die Dämmerung hat eingesetzt.

Prinz Theo liegt lange noch wach. Er lauscht den Tieren des nächtlichen Waldes. Die nichts von ihm und dem Schloss und der Spieldose wissen. Die Glücklichen! Er betrachtet über sich all die Sterne.

 


Das war Episode 2 von 12 aus: Volker Friebel (2019): Prinz Theo und der Elfenbeinturm. Edition Blaue Felder, Tübingen. Mit zwölf Illustrationen (Grautöne). Erhältlich im Buchhandel.

 


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