Volker Friebel
Dichtung sollte allgemeinverständlich sein, will sie doch jeden Menschen in seinem unverstellten Menschsein ansprechen. In „Die sieben Töne des Waldes“ wird allerdings immer wieder auf neuropsychologische Vorgänge Bezug genommen, deren Kenntnis der Dichter nicht voraussetzen kann. Einige Ausführungen dazu lassen die Verse vielleicht besser bestehen.
Subjektive Qualitäten
In der physikalischen Welt gibt es keine Töne. Es gibt Wellen. Eine Schallwelle ist eine mechanische Welle in einem Medium, etwa in Wasser oder in Luft. Nervenzellen im Ohr reagieren auf Schallwellen von 20 bis 20.000 Schwingungen pro Sekunde mit Signalen an das Gehirn. Die mit dem Ohr verbundenen Bereiche des Gehirns registrieren diese Signale und erfinden zu ihnen die subjektive Qualität der Töne. Eine Schwingung ist kein Ton. Erst das menschliche Gehirn macht einen daraus. Computer können das nicht. Sie nehmen Schallwellen als Schwingungen auf, sie zu „hören“ ist ihnen nicht möglich, die kreative Erzeugung von Tönen aus Wellen eignet nur dem Menschen sowie Tieren mit einem verwandten Gehirn. Außerhalb eines Gehirns gibt es keine Töne.
In der physikalischen Welt gibt es auch keine Farben. Es gibt elektromagnetische Wellen. Auf 380 Nanometer bis 780 Nanometer, einen sehr kleinen Bereich dieser Wellen, reagieren Nervenzellen unseres Auges. Manche reagieren am stärksten auf Wellenlängen um 560 Nanometer. Sie senden Impulse an das Gehirn und dieses erfindet dazu die subjektive Qualität einer Farbe (ein grünliches Gelb). Andere reagieren am stärksten auf Wellenlängen um 530 Nanometer, und das gibt ein Gelbgrün in unserem subjektiven Erleben. Und wieder andere reagieren am stärksten auf Wellenlängen um 420 Nanometer, das Gehirn malt sich dazu „Blau“. Und aus der Mischung dieser Nervenimpulse entsteht die bunte Welt, die wir kennen, als kreativer Akt, als Erfindung, als Sprung in eine nicht physikalische, sondern subjektive Welt, als ein Erleben.
Gegeben sind Nervensignale, die unentwegt eintreffen – und das Gehirn. Die Nervenzellen des Auges sind mit anderen Gebieten verknüpft als die Nervenzellen des Ohrs. Die Gebiete, in die das Ohr signalisiert, erfinden Töne, die Gebiete, in die das Auge signalisiert, erfinden Farben.
Die erfundene Welt
Aus den Tönen haben sich die Menschen und ihre Verwandten Tonleitern erfunden, Harmonien, Rhythmen, Musik. Sie haben diese in eine Welt gebracht, die bislang nichts davon kannte. Sie sind neu. Mit den Tönen und Farben erweitern wir die bisherige Welt.
In den Qualitäten des subjektiven Erlebens, in der darauf aufbauenden Musik, Dichtung, Kunst entfaltet sich eine ganz eigene Welt des Menschen und seiner Verwandten, welche die physikalische Welt zur Grundlage hat, in der aber eigene Regeln gelten.
Es tut gut zu wissen, dass wir damit nicht alleine sind, sondern geschwisterlich verbunden mit anderen Wesen derselben Welt. Das Auge des Falken, das Ohr des Hasen zeigen, dass auch die Tiere an dieser Welt dichten, wie wir.
Was der Mensch als sein Eigenstes empfindet, sein „Ich“ – es lässt sich physikalisch nirgendwo lokalisieren. Wie es aussieht, gehört es gleichfalls zu dieser erfundenen, neu erschaffenen subjektiven Welt. Das bedeutet nicht, dass das Ich nichts ist, oder dass es weniger wäre, als wir bisher dachten. Es bedeutet, dass es anders ist, und dass wir noch nicht wissen wie, dass wir um seine Bedeutung, um seine Wahrheit ringen müssen.
Wahrheit in einer erfundenen Welt
Wahrheit ist nichts, dem sich Dichtung mehr oder weniger gut annähern würde, nein, Dichtung schafftWahrheit. So wie auch Wissenschaft Wahrheit schafft, sie keineswegs bloß findet (wäre das so, müsste man sich fragen, wie es sein kann, dass sie immer ein bisschen etwas anderes findet, und müsste schließen, dass sie als fortlaufender Prozess nie bei der Wahrheit ankommen, also nie wahr sein kann).
Wahrheit zeigt sich damit als etwas Konkretes, Bedingtes, Gegenwärtiges, also auch Veränderungsfähiges, nicht als etwas Abstraktes, Unbedingtes, ewig Gültiges.
Die Wahrheit der Dichtung (und der anderen Künste) bezieht sich auf das innere Erleben, auf das neu entstandene menschliche Reich, die Wahrheit der Wissenschaft auf die Handlungsfähigkeit des Menschen in der physikalischen Welt.
Eine wesentliche Frage der Dichtung ist die Frage nach Ankern der Wahrheit. Denn als Wort für ein bloßes Treiben im sich schnell verändernden Wahrnehmungsstrom ist sie nichts wert. Und als Wort für eine willkürliche Orientierung an zu einer bestimmten Zeit in diesem Strom gebildeten Kategorien nicht viel mehr.
Dichten und Denken
Martin Heidegger meint in seiner Vorbemerkung zu einer CD mit gesprochenen Hölderlin-Versen: „Dem Sinnen und Denken liegt nur das eine ob: Dem Dichten vorzudenken, um dann vor ihm zurückzutreten.“ Das Denken setzt danach einen Rahmen, in dem sich das Dichten bewegen kann, der Dichtung hält, damit sie nicht in eine haltlose Irre gerät.
Im Text oder im Lied kommt Dichtung unmittelbar zum Ausdruck, Gedicht und Lied sind Dichtung. Zwischen Wissenschaft und wissenschaftlichem Text dagegen gibt es eine Differenz. Der wissenschaftliche Text ist ein Bericht über das Ergebnis wissenschaftlichen Handelns, er ist nicht selbst Wissenschaft. Wissenschaftliche Texte wollen Wissen übermitteln, etwa in Form von überprüften und intersubjektiv für „wahr“ erhobenen Behauptungen (Hypothesen). Denn Wissenschaft hat einen universellen Anspruch. Sie trachtet danach, auf Behauptungen zu kommen, denen alle Menschen zustimmen können und andere, konkurrierende Behauptungen auszuschließen.
Dichterische Texte mögen manchmal in der Form genauso erscheinen, ihre Absicht ist aber eine andere, denn in der Dichtung können durchaus viele Wahrheiten nebeneinander existieren. Das Gedicht stellt eine Herausforderung an den Leser, sich selbst mit seinen eigenen Anschauungen und seinem eigenen Erleben an diesen Texten zu prüfen, sich so über die eigenen Anschauungen klarer zu werden und Worte für das eigene Erleben zu finden, Worte des Wiederfindens oder des Widerspruchs.
Ob der Leser widerspricht oder zustimmt, ist dabei für das Gedicht nicht wichtig; wichtig ist, dass es in eine Auseinandersetzung führt. Insofern will auch Dichtung die Weltsicht des Lesers erweitern und klären – aber nicht durch zu übernehmende Wahrheiten der physikalischen Welt, sondern durch die Herausforderung der subjektiven Wirklichkeit.
Das Lauschen
Mit der reinen Wissenschaft teilt die Dichtung einen Charakter des Lauschens. Während lange Jahrhunderte hindurch nur der in überlieferten Schriften einer offenbarten Religion enthaltene Sinn in rechter Weise verstanden zu werden brauchte, sind wir mit dem Autoritätsverlust der sinnstiftenden Institutionen auf uns selbst zurückgeworfen, und es ist ein Lauschen auf die ganze Natur und auf uns selbst geworden.
Sinn ist aber nichts, das willkürlich zu setzen im Belieben des Menschen steht, sondern etwas, das sich ereignet. Das kann beim Singen, in einem wissenschaftlichen Experiment, im Zusammensein mit anderen Menschen, beim Betrachten einer Blume sein. Wesentlich ist das Lauschen auf das Andere vor uns, und auf uns selbst.
Wir haben dieses Gegenüber erfunden, und uns selbst, uns Lauschende, auch. In unserem Miteinander werden wir wahr. Es ist eine Wahrheit, die sich im Lauschen verändert.
Im Lauschen sind die Gedichte entstanden, im Lauschen auf die Anker der Wahrheit, auf die sieben Töne des Waldes.
Erstveröffentlichung in: Volker Friebel (2011): Die sieben Töne des Waldes. Gedichte, Haiku und ein Essay. Tübingen: Edition Blaue Felder.
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