Das Gewicht der Wolken

Volker Friebel

 

Des Menschen Maß zeigt sich in seinen Gewichtungen. Ein 50-Euro-Schein, ein Schulzeugnis, ein Haus mit Garten im Grünen, eine Frau und ein Mann und zwei Kinder, ein Segelboot: Alles das hat einen Bezug zu ihm, zu den Anforderungen an ihn, zu seinen Bedürfnissen und Freuden, zu seiner Schrittlänge, zu dem, was er tragen kann.

Das ist nun ein Ratespiel. Hauptgewinn ist eine Reise für zwei Personen nach Kreta ins Labyrinth, Einsatz ein Atemzug Himmel. Also, machen Sie mit! Was ist leicht, was ist schwer?

Das Gewicht einer Feder, die den Vogel trägt, aber selbst fällt, wenn sie sich aus seinem Gefieder löst.

Das Gewicht einer Schneeflocke in der offenen Hand.

Das Gewicht eines grauen Regenmorgens.

Das Gewicht der Daunendecke auf einer Frau, die erwacht im schneeweißen Bett der Depressiven-Station.

Das Gewicht der Worte im Raum, nachdem der Mann seinen Vortrag beendet hat und die Zuhörer noch schweigen.

Das Gewicht der Blumen auf dem Markt, die in den Einkaufskorb kommen, zu den Kartoffeln dazu.

Das Gewicht dieses Blütenblatts, das sich löst und davonweht, dem Wind ergeben.

Das Gewicht eben des Windes, der einem Kind am Haar zerrt.

Das Gewicht des Platanenblatts, das eine Frau aufhebt, eines unter all den Gefallenen, das sie betrachtet, dessen Adern sie mit den Fingern nachspürt, das sie wieder fallen lässt in die Menge.

Das Gewicht der Erde bevor, während und nachdem dieses Blatt fiel.

Das Gewicht der Wolken.

Das Gewicht des Regentropfens auf seinem Weg durch die Himmel, der die Luftmoleküle zum Schwingen bringt.

Das Gewicht der Farben in einer Sommerwiese.

Das Gewicht einer Schuld.

Das Gewicht der Tinte, die Verse malt auf einem weißen Stück Papier.

Das Gewicht eines Buchs, in dem alle Buchstaben verblichen sind.

Das Gewicht eines Regenbogens.

Der Liebe Gewicht, die einen Mann tanzen macht.

 

***

 

„Kinder mögen Gerechtigkeit“, sagt Clara. „Sie mögen Ehrlichkeit und womöglich, bevor sie in die Schule kommen, auch Wissen und die Weisheit von Großmüttern.“ Clara lacht. „Als Kind war ich so. Jetzt scheint mir das sinnlos. Erwachsene leben.“

„Womöglich bin ich ein Kind.“ Der Bibliothekar schaut aus dem großen Wohnzimmerfenster.
Clara sieht ihn lange an. Und zitiert dann:

„‚Die Waage gleicht der großen Welt:
das Leichte steigt, das Schwere fällt.‘

Lessing“, sagt sie. „In der Welt zählen leichte Dinge.“

„In der großen Welt“, meint der Bibliothekar. „Aber wie ist es hier? Bei dir? Bei mir?“

„Wir sind ein Teil der Welt“, sagt Clara.

Sie beugt sich zu ihm und küsst ihn.

 

Aus: Volker Friebel (2015): Das Gewicht der Wolken. Eine Erzählung in Augenblicken und Episoden. Tübingen: Edition Blaue Felder.