Fluten-Log – Archiv 07

Gelegentlich etwas Neues oder Altes, Text oder Foto oder Musik, ausgearbeitet oder Notiz. Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Beiträge von Volker Friebel.

Fluten-Log: Aktuell, Archiv: 14, 13, 12, 11, 10, 09, 08, 07, 06, 0504, 03, 02, 01 (ab 07.06.2018)

 


Dienstag, 17. Juni 2020

Hallwilersee

Gelegen kaum 40 Kilometer westlich von Zürich und dem deutlich größeren Zürichsee, 449 Meter über dem Meeresspiegel, bei einer Fläche von 10,3 Quadratkilometern 8,4 Kilometer lang, bis 1,5 Kilometer breit, bis 47 Meter tief: das sind die Daten des Sees, den wir umwandern wollen. Wir beginnen im Norden, in Seengen, wählen das östliche Seeufer und kommen über das westliche Seeufer zurück. 22 Kilometer sind das, ohne Umwege.

Von Seengen, wenig landein gelegen, führt ein Pfad an den See. Am Rand bemalte Steine. Ein Schild am Boden regt an: „Liebe Kinder, malt doch auch einen Stein bunt an und legt ihn dazu. Mal sehen, wie lange die Steinschlange wird!“

Ist das eine schöne Idee oder Gängelung? Wir entscheiden uns wie immer in Zweifelsfällen für die schöne Idee. Steine gibt es genug, Farbstifte haben wir keine dabei. So bewundern wir nur die Steine und ziehen dann weiter.

Bemalte Steine.
Der Schlag kleiner Herzen fest geworden
am Wegrand.

[…]

Der ganze Text.

 


Sonntag, 14. Juni 2020

Noch eine alte Notiz, vom Samstag, dem 21. Juni 2008 aus dem Schönbuch bei Tübingen:

Wir wissen niemals, was ist. Wir können froh sein, wenn wir hin und wieder wissen, was wir glauben.

 


Samstag, 13. Juni 2020

Beim Blättern gefunden eine alte Notiz aus einem Spaziergang bei Tübingen:

Umwelt wird Welt durch die Liebe. Vernunft trägt nie weit genug.

Vielleicht ein bisschen zu idealistisch? Liebe ist literarisch schwer zu verwenden. Aber da ist sie doch.

 


Mittwoch, 10. Juni 2020

Nach der nochmaligen Durchsicht meiner Steuererklärung wegen eines Briefs des Finanzamts, ich möge bitte einige Unstimmigkeiten erklären,  lese ich in einem alten Text aus dem Würzburger Dom:

Im Dom das viele Gold ist kein Gold, es ist ein Sieg des Feindes, es ist eine Niedertracht. Die Engel haben sich in die Ritzen des Steins zurückgezogen, in die tiefere Kühle, sie warten auf einen Menschen, während die Schatten draußen vorüberziehen.

Die Heiligen sind keine Engel, es sind tote Fanatiker, die das Feld des Krieges zu vergrößern verstanden, so wurden sie von den Mächtigen gesalbt.

Heilig ist das ungesalbte Gras am Wegrand.

Heilig ist der Stein, den ein Pflug aus dem Acker hob, den ein Kind auflas und auf einen Haufen schmiss.

Heilig ist der Spatz, der von Statue zu Statue fliegt, für etwas zu essen.

Heilig ist die alte Frau, die gebetet hat, um irgendetwas noch zu erhalten, und die nichts erhält, die sich nun erhebt, so weit sie kann, und krumm zum Portal geht.

Heilig ist nicht das Gold, aber der Schatten des Goldes.

Heilig ist kein Wort, das einer sagt, aber jedes Wort, das jemand wahrhaftig zu singen versucht.

Heilig sind nicht die Touristen, aber der Hall ihres Schritts.

So. 21.06.2015, Würzburg, Dom, mittags: 13:42 Uhr

 


Samstag, 6. Juni 2020

Ein neuer Online-Kurs ist fertig geworden: Fantasiereisen in der Kita: Eine Anleitung und 150 Fantasiereisen. Bei dieser Gelegenheit habe ich durchforstet, was ich schon alles an Fantasiereisen geschrieben und veröffentlicht habe.

 


Dienstag, 2. Juni 2020

Den Morgen durchströmender Regen. Der Schriftsteller hat die Balkontür geöffnet und lauscht, am Schreibtisch sitzend, die Augen geschlossen, vor der geöffneten Datei.

„Aller Regen ist gefallen schon vor Anfang der Welt.“

Manchmal lässt er zu, dass sein Mund von selbst spricht. Natürlich nur, wenn niemand anwesend ist. Niemand als er selbst. Meistens kommt nur dummes Zeugs, er hat es jedenfalls schon lange aufgegeben, nach besonderen Inspi­rationen darin zu suchen. Obwohl sich in diesem hier schon etwas finden ließe. Viel interessanter wäre aber die Frage, woher diese Sachen eigentlich stammen. Und warum sie kommen.

Geräusche auf seinem Parkett, wie fallende Tropfen. Er schaut hoch. Ein Eichhörnchen ist über die Schwelle der Balkontür gestiegen. Der Schriftsteller staunt es an. Als er sich ihm ganz zuwendet, flieht es um den Tisch zurück zur Tür und witscht hinaus. Auf dem Balkongeländer hockend, schaut es zurück.

Der Schriftsteller spricht ein paar Worte.

Das Eichhörnchen lauscht.

Dann springt es ins Gezweig eines Buschs und ver­schwindet.

Der Schriftsteller lacht. In Gedanken notiert er auf dem Einkaufszettel eine Packung Haselnüsse.

Aus: Volker Friebel (2015): Das Gewicht der Wolken. Eine Erzählung in Augenblicken und Episoden. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 


Mittwoch, 27. Mai 2020

Eine alte Notiz, Mitte April 2005 festgehalten, im Alten Botanischen Garten, Tübingen:

Ein genaueres Betrachten jedes dieser menschlichen Leben wird eine gewisse Mechanik der Gewohnheiten und Anschauungen nicht übersehen können. Wie unfrei wir sind. Wenn Freiheit denn Ungebundenheit, Unabhängigkeit meint.

Unser Lebensgefühl aber ist frei, es ist ein Fluss, ein Strom, der wohl vom Flüstern der Schwerkraft immerfort durchdrungen ist, aber dennoch sich frei fühlt. Vielleicht heißt Freiheit einfach: zu sein, diese Abhängigkeiten nach außen nicht als solche wahrzunehmen, sondern als Bestandteile des eigenen Wesens, als sich selbst.

Wenn ich bin, bin ich frei. Wenn ich analysiere, splitte ich in dies Selbst und dies Außen und empfinde die Abhängigkeit, verliere die Freiheit.

Frei sein heißt naiv sein, heißt einfach nur sein.

 


Sonntag, 24. Mai 2020

Da lese ich wieder diesen Satz: „Alles ist relativ“ (Albert Einstein). Ja, stimmt schon, stimmt – aber …

Wenn der Satz allgemeingültig sein will, und sein „alles“ fordert das ein, gilt er auch in Anwendung auf sich selbst. „Alles ist relativ relativ“, heißt er dann allerdings korrekt …

 


Samstag, 23. Mai 2020

Gerade arbeite ich an einem Online-Kurs zu Fantasiereisen in der Kita. Bei der Literaturdurchsicht finde ich einen eigenen Artikel zu Fantasiereisen bei Kindern aus Vorzeiten:

Volker Friebel: Über dir singt eine Lerche. In der Serie: Entspannung für Kinder. Spielen und Lernen, Maiheft 1997, Seite 34.

Nicht die Druckfassung, sondern meine der Zeitschrift eingereichten Worte: „[Fantasiereisen] zeigen nur wenig Handlung, nur wenig Aktivität in der Erzählung, aber viele bildhafte Vorstellungen, vor allem aus der Natur. Feld, Wald, See, Bach, Wolken, aber auch städtische Themen wie ein Park oder ein verlassener Spielplatz können Thema einer Fantasiereise sein. Die Worte dienen nur als Anstoß zum eigenen Erleben der angesprochenen Bilder. Diese können vom Kind durchaus auch anders ‚ausgemalt‘ werden, als vom Sprechenden vorgegeben. Wichtig sind nicht die Worte, wichtig ist das eigene Erleben des Kindes. Fantasiereisen werden deshalb mit viel Raum zwischen den Sätzen vorgelesen. Das Kind schließt die Augen und stellt sich die angesprochenen Bilder selbst vor. Ein Beispiel, der Spaziergang auf einem Feldweg; drei Punkte stehen für eine kleine Sprechpause:

Stell dir vor, du bist draußen unterwegs und gehst einen Feldweg entlang. Es ist Sommer, die Sonne scheint warm …

Überall wiegen sich goldene Felder. Wenn ein leichter Wind darüberfährt, hörst du den Klang aneinander schlagender Ähren …

Über dir singt eine Lerche im Himmel. Du schaust hoch, aber du kannst sie nicht sehen. Nur weiße Wolken, die wandern die gleiche Richtung wie du …

Am Rande der Felder blüht hier und da roter Mohn. Ab und zu siehst du auch eine blaue Kornblume zwischen den Halmen des Korns … Und da blühen Kamillen. Du riechst ihren Duft …

Von überall her zirpen Grillen …

Aus der Ferne hörst du tiefes Rattern und Brummen. Das muß ein Traktor sein …

Du bleibst stehen und schließt die Augen. Du spürst deinen Atem gehen, ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. Du spürst die Weite der Welt …“

[…]

Geschrieben am Montag, 9. Dezember 1996 müsste heute wenig geändert werden, außer der Rechtschreibung, die inzwischen zwei Mal reformiert wurde. Es berührt seltsam, diese Konstanz im sich sonst überstürzenden Strom der Zeit zu erleben. Vielleicht nehme ich ein paar Sätze in den Online-Kurs hinein.

 


Sonntag, 17. Mai 2020

Bei der Überarbeitung eines alten Gedichtbuchs lese ich und überarbeite nicht:

Orgel im Kölner Dom

Im Vorraum warten, aus dem Dom
hallt ein Gottesdienst.
Der Kopfhörer eines Touristen
scheppert America gegen
die ferne Orgel und einen afrikanischen Chor,
gezügeltes Feuer der Steppe.

Die Spuren am Boden
sind nass vom Regen,
im Zugwind flackern Kerzen.
Drinnen aber der Himmel,
umschlossen hoch vom Stein,
zitternd und weit …

Weinen möcht ich,
nicht glauben.

Lieben möcht ich,
nicht verstehen, was ist.

Aus: Volker Friebel (2009): Nachricht von den Wolken. Gedichte und Haiku. Zweite Ausgabe. Edition Blaue Felder, Tübingen.

Das ist vom Samstag, 22. Oktober 2005, aus dem Kölner Dom. Und fast zehn Jahre nach meinem denkwürdigen ersten Besuch dort, damals auf der Rückfahrt von der dämlichen Vorstellung einer neuen Veröffentlichungsreihe eines Verlags (Weltbild, ich durfte mit anderen Autoren antanzen) in einem Schlosshotel, mit Luxus-Buffet und entsprechend zahlreich angeschwappten Journalisten. Seit meiner Jugend hatte ich Kirchen gemieden – und da stand ich nun und brach nach diesem Kommerz-Ereignis in Tränen aus. Wegen der Höhe des Raums. Und unserer (meiner) Kleinheit. Was schwer in Worte zu fassen ist. Bei diesem neuen Besuch nach zehn Jahren gelang es immerhin besser.

„Im Vorraum warten“ – ein Gottesdienst lief, wir normalen Besucher durften nicht hinein. Weil es draußen regnete, warteten wir im Vorraum. „America“ – die US-Band, ich glaube, es war ihr schönes „A horse with no name“. Der „afrikanische Chor“ einer von Köln unterstützten Gemeinde irgendwo in Afrika durfte im Rahmen des Gottesdienstes dort auftreten, in seiner Fremdartigkeit sehr beeindruckend.

 


Freitag, 15. Mai 2020

Sumpf-Schwertlilien, genauer gesagt. Erst seit wenigen Tagen blühen die ersten. Das Foto ist wie das Haiku von heute, vom Goldfisch-Weiher hinter Tübingen-Bebenhausen.

Aber dieses Haiga käme bei den Kennern gar nicht gut an. Im Text stehen Schwertlilien – und dem Fotografen fällt nichts anderes ein, als eben diese abzulichten. Ein gutes Haiga würde den Text herausfordern, etwa durch ein Schwarz-Weiß-Foto einer Auto-Werkstatt. Oder durch einen Akku-Bohrer. Oder durch hingeworfene Schrauben aus einem Baumarkt-Regal. Der Leser wäre so aufgefordert, sich seine eigenen Assoziationen zwischen den Angeboten zu schaffen. Ich empfinde das auch so. Aber irgendetwas in mir fühlt sich trotzdem nicht wohl dabei und will trotz aller Unbedarftheit lieber zu etwas anderem zurück.

 


Donnerstag, 14. Mai 2020

„Die menschliche Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Kriegen“, lese ich in einer Erzählung.

Stimmt!

Die menschliche Geschichte ist allerdings auch eine Aneinanderreihung von Purzelbäumen. Denn wenn einer die Zeit hinunterschaut, wird er Kinder purzeln sehen.

Und die Geschichte des Planeten Erde ist auch eine Aneinanderreihung ziehender Wolken.

Die Frage ist weniger, was aneinandergereiht wird, sondern welche Bedeutung die einzelnen Perlen für die jeweilige Reihe haben. Gäbe es ein Bedeutungs-Zeitfenster, wir wären womöglich sehr überrascht. Vielleicht war der bisher wichtigste Moment der Menschheitsgeschichte, als vor 42.420 Jahren, vier Monaten und zwei Tagen ein Kind im Traum einem Schmetterling zuwinkte.

Leicht veränderte Wiederholung aus dem Fluten-Log vom Freitag, 6. Februar 2015, als er noch ein eigenständiges Netzprojekt war. Das Zitat stammt aus „Die Simulation“ von Ulf Forkner, Amazon Kindle.

 


Dienstag, 5. Mai 2020

Wenn man in alten Sachen gräbt …

Kiefer am Bergsee

Offen das Auge des Sees,
Wimpernhaare, die Kiefern, oben und unten
der Himmel.

Ein zorniger Wanderer geht vorbei, hadernd
mit diesem Jahrhundert, in der Öde wiederzufinden
den Weg.

Wie er leiser wird, verschwunden schon bald
in der Ebene, vor dem steil aufstürmenden Fels,
vor den Wasserfällen.

Tropfen Nektar, du summst
aus meinem Wipfel ins Blau.

Tropfen Honig, du dämmerst
im stillen, verborgenen Stock.

Das ist veröffentlicht erst in meinem letzten Lyrikbuch, mit den meisten der anderen Liedern der Bäume: Volker Friebel (2019): Manchmal Tau. Lyrik und Haiku. Mit Schwarz-Weiß-Fotos. Edition Blaue Felder, Tübingen.

Geschrieben ist es aber schon viel früher. Die Musikaufnahme stammt vom Spätsommer 2005 (der Gesang setzt erst spät ein, bei 4 Minuten 28 Sekunden):

Kiefer am Bergsee

Schon damals hab ich aus den Sachen nichts zu machen verstanden.

 


Montag, 4. Mai 2020

Bei der Durchsicht von Tonaufnahmen aus dem April 2020 stoße ich auf etwas vom Samstag, 18.04.2020. Werde ich das je sauber aufnehmen können? Wohl nicht. Dabei finde ich die Substanz wunderschön.

Improvisation in d-Moll

 


Freitag, 1. Mai 2020

Zum Umgang mit Statistiken.

Früher starben die Menschen fast alle zu Hause im Bett, kaum einer im Hospital. Heute sterben die Menschen fast alle im Hospital oder ähnlichen Einrichtungen wie Pflegeheimen, kaum einer zu Hause im Bett.

Preisfrage: Heißt das, dass das eigene Bett früher ein sehr unsicherer Ort war, da man oft darin starb, und heute sehr viel sicherer geworden ist, durch die Bemühungen der Schreinergilde etwa?

Weitere Preisfrage: Heißt das, dass Hospitäler früher sichere Orte waren, da man selten darin starb, und heute sehr unsicher, um nicht zu sagen gemeingefährlich geworden sind?

Wer die richtigen Antworten findet und begründen kann, dürfte so ziemlich allen Politikern und Journalisten und ich fürchte auch vielen in den Medien auftretenden Wissenschaftlern einiges voraus sein.

 


Donnerstag, 30. April 2020

Auch für mich selbst überraschend, habe ich heute eine neue Netzpräsenz ins Leben gerufen:
www.fantasiereisen-entspannungsgeschichten.de

Das ist ganz für Kinder gedacht, zunächst für Eltern, Erzieher, Lehrer. Die ersten Fantasiereisen sind schon da.

Finanziert werden dürfte die Präsenz durch Buchverkäufe, Kurse und die Verwertungsgesellschaft Wort, hoffe ich. Und mir machen Fantasiereisen und Entspannungsgeschichten einfach viel Freude. So viel zur Entschuldigung.

 


Dienstag, 28. April 2020

Stimmen

Gemeinsam haben wir Wörter erfunden,
Wörter wie „Schnee“, wie „Rose“ und „Blut“.
Wir haben Fotos aus alten Koffern gesichtet,
Portraits entfernter Verwandter, alle längst tot.
Wir haben uns in einem vergilbten Auge
erkannt, im Schatten eines Lächelns, im Ausdruck
einer halb geschlossenen Hand.

Lass uns die Augen schließen
und träumen! Lass uns die Augen öffnen und wissen:
Alles ist Traum.

Das Radio quakt. Denen ihr Auftrag
in deinem Kopf. Soldaten werfen Reissäcke ab.
Wir träumen noch immer.

Wir schauen uns an und versuchen:
„Wahrheit“, „Wasser“, „Liebe“, „Brot“.
Das Radio plappert noch immer.

Wenn Stimmen schnell sind und bunt,
dann weißt du,
dass du sie abschalten kannst.

Wenn die Stimme der Märchenerzählerin zittert,
dann hör genau hin.

Wenn du ihre Lippen berührst,
dann weißt du, was wahr ist.

 

Aus: Volker Friebel (2008): Brunnensteine. Gedichte und Haiku. Zweite Ausgabe. Edition Blaue Felder, Tübingen.

 


Sonntag, 26. April 2020

Gerechtigkeit: Ein Vogelnest, zwischen den kleinen Eiern liegt ein großes, offenbar ein Kuckucksei. Was wirst du tun? Nimmst du es weg? Du rettest mehrere Vogelküken. Und tötest eines, das doch auch nur seiner Natur folgt. Du greifst damit in den Ablauf der Natur ein. Aber das ist deine Natur. Wie auch die des Kuckucks.

Notiz vom (Kar-) Fr. 06.04.2007, Schönbuch bei Tübingen-Hagelloch

 


Dienstag, 21. April 2020

„Du kennst die Statistik“, sagt Hans: „Ein Drittel der Menschen ist schwachsinnig, ein Drittel geistesgestört, ein Drittel verbrecherisch – und lediglich das letzte Drittel besteht aus vernünftigen Leuten.“

„Zu welchem der vier Drittel wir wohl gehören?“, fragt Clara und schaut ihn an.

„Wir gehören zur Restmenge, zum statistischen Ausschuss, der immer unter den Tisch fällt“, behauptet Hans.

„Ich glaube an Statistik nicht sehr“, meint Clara. „Bei allem, was mit Menschen zu tun hat, ist die Wahrheit doch eine andere, als die auf dem Papier: Wir gehören wie alle in alle fünf Drittel hinein.“

Ein Text von 2014, für den damaligen Fluten-Log

 


Der Schlusstext aus dem kürzlich erschienenen Buch: Murmel Mu – Aus den Reden eines Murmeltiers, der erklärt, wie das Buch in die Welt kam und was es jetzt dort macht. Zu beachten: Das Buch ist für Erwachsene. Für Kinder ist es zu schwierig.

Das Manuskript

Eines Tages gab es im Gebirge einen gewaltigen Krach, so dass der Adler, der gerade auf ein unvorsichtiges Murmeltier herabstürzen wollte, erschreckt abdrehte. Ein Spalt öffnete sich im Himmel, ein Schreibtisch purzelte heraus, gefolgt von Bildschirm, Tastatur, Büchern, Computer. Alles landete unsanft auf der Erde – zuletzt ein Mensch.

Murmel Mu lugte aus dem Eingang zu seinem Bau und sah den Menschen dort stehen, sich den Hintern reiben und schimpfen.

So wolle er seinen Wunsch an den Himmel, ihm Ruhe zum Schreiben zu geben, nicht verstanden wissen, entnahm Mu seinen Flüchen. „Der Bagger, der vor meinem Schreibzimmer die Straße aufreißt, ist doch gar nicht so schlimm!“

Mu näherte sich. „Herzlich willkommen“, pfiff er. „Einen Grashalm kann ich dir anbieten und einen Schluck Wasser aus dem Sturzbach – den du dir sogar selbst holen darfst!“

„Ich brauch nicht Speis und nicht Trank“, sagte der Mensch mürrisch und klopfte sich den Staub aus seinen Kleidern. „Als Dichter bin ich von Luft und Liebe zu leben gewohnt.“ Er schaute sich um.

„Luft gibt es reichlich“, informierte ihn Mu und sah nach den Murmeltier-Damen vom Nachbarhang, die sich aber in ihren Bauen verkrochen.

Einer der Hirtenbuben kam heran. „Was hast du denn da?“, fragte der Dichter und riss ihm seine Kladde aus der Hand.

„Das sind die Reden Mus“, sagte der Hirtenbub und griff nach seinem Notizbuch. Lässig wehrte der Dichter ihn ab.

„Daraus lässt sich was machen“, murmelte er, blätternd im Buch.

„Das ist nichts für dich“, sagte er schließlich freundlich zum Hirtenjungen und gab ihm einen Klapps.

Der Dichter richtete sich ein Stück weiter unten am Bergbach in einer leer stehenden Hütte ein. Oft saß er auf der Bank unterm Fenster, führte die Notizen des Hirtenjungen aus und kritzelte einiges eigene dazu. Ein Teil des Besucherstroms zum Eingang von Mus Bau lief an der Hütte vorbei. Vor allem die Damen ließen sich gern Bücher signieren und Widmungen schreiben.

Der Adler hatte mittlerweile die Jagd auf Murmeltiere aufgegeben und verrichtete gegen Bezahlung Botenflüge. So flog er eines Tages das Manuskript zum Drucker.

Nach ein paar Wochen sandte der Drucker das erste fertige Exemplar des Buchs durch einen Hirtenbuben an Mu.

Mu knabberte ein bisschen daran, aber weit kam er nicht, ihm schmecken Kräuter viel besser. So liegt das Buch nun in der Wiese, zwischen wilden Blumen und Klee.

 


(Kar-) Freitag, 10. April 2020


Samstag, 4. April 2020

Holzmarkt Tübingen. Auf den Stufen der Stiftskirche, die den Platz beherrscht, sitzen im Frühling zur Abenddämmerung sonst plaudernd Studenten, Gläser, Flaschen, aufgebrochene Pizzaschachteln neben sich. An Samstagabenden drängen Besucher der Motette zum kleinen Kirchenportal an der Seite. Doch heute liegt der Platz still. Bis auf den Penner mit der verwaschenen US-Flag auf dem Hemd, der ab und zu ein bisschen krakeelt.

Laternen brennen. An manchen Pfählen lehnt ein Mensch, immer nur einer, Corona-Ansteckungsgefahr, polizeiliches Abstandsgebot. Einige stehen auch, einzeln, an den Schaufenstern, Elisabeth und ich am Antiquariat Heckenhauer (Hermann Hesse war hier Lehrling, später auch Sebastian Blau). Unsere Gesichter sind dem Kirchturm zugewandt, hinter dem der Mond die Laternen und die wenigen erleuchteten Fenster der Bürgerhäuser noch überstrahlt.

Die Trompete beginnt mit einer orientalisch anmutenden Melodie. Wir suchen den Schatten des Bläsers hinter der Brüstung oben am Turm. Ist er das? Er steht regungslos. Ein Glockenspiel löst ihn ab. Trompete und Glocken wechseln.

Über das Kopfsteinpflaster wird ein Einkaufswagen geschoben. Das Licht der Laternen und des Mondes fällt nicht in jeden Winkel, so hilft dem Flaschensammler eine Taschenlampe bei der Erkundung der Abfallkörbe am Platz.

Noch einmal die Trompete: „Der Mond ist aufgegangen“. Ich habe das Lied einmal tief in der Nacht gehört, auf einem französischen Campingplatz am Lac de Narlay, ganz einfach gesungen, von einigen jungen Kerlen, tief berührend. Unsere Bläser-Version ertrinkt fast im Zierrat und beendet das surreale Konzert.

Sagen wir etwas? Wir sehen uns an. Jemand klatscht. Andere fallen ein.

 


Mittwoch, 1. April 2020

Neuerscheinung: Volker Friebel (2020): Murmel Mu – Aus den Reden eines Murmeltiers. Edition Blaue Felder, Tübingen. PapierBuch und eBuch.

Das ist kein Kinderbuch! Die ersten Texte entstanden im Jahr 2000, rabenschwarz, die letzten kurz vor Veröffentlichung des Buchs, heiter. Wahrscheinlich weil ich keine Hoffnung mehr habe.

 


Fluten-Log: Aktuell, Archiv: 14, 13, 12, 11, 10, 09, 08, 07, 06, 0504, 03, 02, 01 (ab 07.06.2018)