Erleuchten den verlorenen Tag

Volker Friebel (2024): Erleuchten den verlorenen Tag. Lieder. Label: Edition Blaue Felder (LC 99060), Distributor: MusicHub. EAN: 4064946336513. Laufzeit: 42:19 Minuten.

1 Von Himmel zu Himmel 2:48
2 Nie endet 3:32
3 Schlehengehölz 3:43
4 Gefangener Vogel 3:33
5 Wunderbär 4:59
6 Tamarisken am Ufer der See 3:16
7 Am Boden 5:09
8 Kiefer am Bergsee 7:25
9 In sternklarer Nacht 4:08
10 Nachtigall 3:43

Erstveröffentlichung: Di. 28.05.2024
Playlist auf YouTube

Text und Musik aller Lieder: Volker Friebel
Es ist das zwölfte Album des Projekts Tausend Lieder

Von Himmel zu Himmel

Es sind die Vögel
und Träume, die steigen, leicht,
aus den Nebeln.

Es ist die Kiefer,
die auch im Winter grünt, störrisch,
unter dem Schnee.

Es sind die vielen Kammern
meiner Seele, verborgen
vor den Spionen des Hasses.

Es sind die Worte
der Liebe, die den verlorenen Tag
plötzlich erleuchten.

Es ist das Lächeln,
das mein Leben erhellt,
auch in der Dunkelheit.

Es ist die Schwermut,
aus der ein Jubel sich löst
und mich fortreißt ins Blau.

Es ist der Wahnsinn,
durch den eine Feder fällt,
von Himmel zu Himmel.

Es ist das Licht,
durch das eine Feder fällt,
von Himmel zu Himmel.

Do. 12.10.2023, bei Sils Maria, Bank am Silvaplanersee, morgens: 8:41 Uhr; sehr stark überarbeitet, fast neu geschrieben, und aufgenommen (zu eben gemachter Klavier-Begleitung): Sa. 06.01.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, Wohnzimmer, abends

Nie endet

Der einzelne Ton eines Vogels,
durch fallende Blätter, der Wind nimmt sie mit
in eine Zukunft aus Moder, Zerfall,
ins Fließen durch die geheimen Gänge
der Bäume, in neu sich bildende Knospen,
die, verschlossen, den Schnee überstehen,
um sich zu öffnen im Frühling,
zu Blättern, zu Blüten,
wenn wir zu zweit im jungen Gras
unter Linden sitzen und uns beteuern,
dass der Wandel des Jahres
nie endet und das Leben
in jedem Augenblick
neu beginnt.

Di. 26.09.2023, Bank Nähe Schwefelbrünnele, Schönbuch bei Tübingen-Bebenhausen, vormittags; Überarbeitung und Aufnahme Denzenbergstraße 29, Tübingen, in der Nacht desselben Tages; Textüberarbeitung und Neuaufnahme: Mi. 03.01.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, nachmittags

Schlehengehölz

An fahlen Halmen blitzt Elfenhaar.
Die Spuren der Winzer sind Wildnis geworden,
ihr Leben ist eingegangen ins Schlehengehölz,
wo die Meisenstimme das Dickicht
schon färbt, wo der Schmetterling
die braune Erde beflügelt.

Meine Seele will im Abend vergehen,
vielleicht dass all ihre Schmerzen sich klären,
den Winter durch, und dann aufsteigen
im Holz und Triebe geben, ein Blatt,
das sich im Sonnenlicht wiegt, eine Blüte,
ein wilder Apfel, den der rastende Wanderer löst,
seinen Durst zu löschen am Abhang,
wo er ins Dämmern schaut
und das Schweigen
zu klingen beginnt.

So. 03.10.2004, bei Tübingen-Unterjesingen, Meditation am Spitzberghang, abends; Überarbeitung und die ganze Strophe 3 („Meine Seele will …“): Mo. 04.10.2004, Tübingen, Denzenbergstraße, Wohnzimmer, morgens; Überarbeitung: Sa. 25.12.2004, Tübingen, Denzenbergstraße, Wohnzimmer, morgens; Überarbeitung, erste Strophe herausgenommen: So. 27.02.2005, Tübingen, Denzenbergstraße, Wohnzimmer, morgens; letzte Textänderung: So. 05.05.2008, Tübingen, Denzenbergstraße, Wohnzimmer, morgens

Gefangener Vogel

Gefangener Vogel, sing dein Lied,
hinter Gitterstäben.
Unsere Stäbe sind unsichtbar.
Unsere Ketten klirren
wie süße Musik.

Gefangener Vogel, sing dein Lied,
hinter Gitterstäben.
Wer nichts will, den fesselt nichts.
Frei zu sein heißt nichts
und niemand zu haben.

Gefangener Vogel, sing dein Lied,
vor dem Spiel der Kinder.
Öffnet die Tür und lasst mich frei.
Doch keiner löse die süßen
Bande der Liebe.

Gefangener Vogel, sing dein Lied,
im schrägen Licht der Sonne.
Schau durch Gitter und mach mich frei,
erfüll den Raum mit süßen
Tönen der Liebe.

Di. 21.11.2023, Bank am Waldrand über Tübingen-Bebenhausen, mittags; Erweiterung auf drei Strophen und Aufnahme auf existierende Klavier-Begleitung: So. 26.11.2023, Tübingen, Denzenbergstraße 29, nachts; Überarbeitung: Do. 11.01.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, morgens

Wunderbär

Auf dem Bergpfad ein Wanderer,
von blauen Schmetterlingen umschwirrt,
stehengeblieben, im Blick
auf den See, sieht er die Zukunft.
Gras wächst, Bäume wachsen,
Berge heben sich langsam empor,
der Himmel ist blau, Murmeltiere pfeifen
im zerfallenen Dorf.
Weidezäune, niedergerissen.
Eine Kuh muht im Wald. In der Ferne
heulen Wölfe vom Glück. Ein Bär trottet
ans Ufer und trinkt.

Ich will sterben und neu geboren werden
im See. Ich will tauchen.
Ich will aus den Wellen mich schwingen
und mit den Flügeln schlagen, im Blau.
Ich will die Augen öffnen und sehen,
zum ersten Mal, will hören, riechen,
schmecken, tasten. Ich will staunen und singen,
ein großes Ja, will eines sein mit
dem wogenden Gras.
Ich will die Glocke schlagen,
versunken im See. Ich will Farben malen
in der Höhle am Hang. Ich will mit den Wellen
am Ufer vergehen.
Ein Wunderbär. Eine flinke Forelle.
Ein Lärchenzapfen, der oben im Wipfel,
im Licht von der Süße
des Lebens träumt.

Sa. 02.07.2022, Rundwanderung um den Silsersee, Via Engiadina, zwischen Blaunca und Maloja, vormittags: 10:05 Uhr; sehr starke Überarbeitung und Erweiterung, fast Neuschrieb: Do. 20.07.2023, Gästehaus Kloster Neustift bei Brixen, morgens; Überarbeitung am nächsten Morgen; Überarbeitung und Neuaufnahme: Do. 18.04.2024, Tübingen, Denzenbergstraße, morgens

Tamarisken am Ufer der See

Ein Brief in der Flasche im Sand,
angespült von fernen Gestaden.
Die Schrift ist lange verblasst,
am Ufer des Nichts.
Die letzten Menschen am Strand,
die Verse sprachen, schwammen vor Jahren
auf Delfinen hinaus
ins jubelnde Meer.

Bald verwandeln die Sterne sich
in glühende Blumen,
über den Tamarisken
am Ufer der See.
Bald verwandeln die Herzen sich
in steigende Funken,
über den Muschelschalen
am Ufer der See.
Bald verwandeln die Funken sich
in fallende Sterne,
über bröckelnden Bunkern
am Ufer der See.
Bald verwandeln die Bunker sich
in pochende Herzen,
unter den Tamarisken
am Ufer der See.

Mo. 17.10.2022, Kos, Tigaki, Strandwanderung, mittags; nach den Tamarisken-Zeilen den Rest dazugeschrieben: So. 15.01.2023, Tübingen, Denzenbergstraße, abends; Überarbeitung mit neuen Zeilen zur Neuaufnahme: Mi. 17.04.2024, Tübingen, Denzenbergstraße, nachmittags; Überarbeitung, Neuaufnahme: Di. 30.04.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, morgens

Am Boden

Geschlagen am Boden liegt er
und steht nicht auf. Er spürt
mit den Händen die Erde.
Er legt seine Wange hin
und riecht das Gras, riecht Veilchen
und Regen aus der vergangenen Nacht,
hört Brunnenrauschen,
hört Fliegengesumm –
und eine Amsel.

Da ist ein Wasser, das rinnt
aus dem Rohr immer den einzigen Weg,
unaufhaltsam, in einen Trog,
durch einen Schacht,
durchs Gewerbegebiet,
durchs weite Land. Es bricht
durchs Gebirge
und strömt dann endlich
ins Meer.

Geschlagen am Boden liegt er
immer noch da und steht nicht auf.
Er lauscht dem Brunnen und spürt
an der Wange die Erde. Er lauscht
seinen Atemzügen und riecht
das niemals besiegte Gras
und etwas Blut.

Einst waren die Halme so klein,
auch dieser Käfer, der ihn ansieht.
Einst hatte die Erde einen anderen Klang,
er erinnert sich kaum, hier am Boden,
nur an das Lied, das er jetzt hört,
das Lied einer Amsel.

Di. 02.01.2024, Tübingen, Busfahrt Landhausstraße – Landestheater, morgens; Überarbeitung zu Hause, Denzenbergstraße 29; abends bei der Musikaufnahme überarbeitet. Starke Überarbeitung, 3. Strophe ganz neu, und Neuaufnahme: Di. 06.02.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, morgens

Kiefer am Bergsee

Offen das Auge des Sees,
Wimpernhaare, die Kiefern, oben und unten
der Himmel.

Ein zorniger Wanderer geht vorbei, hadernd
mit diesem Jahrhundert, in der Öde wiederzufinden
den Weg.

Wie er leiser wird, verschwunden schon bald
in der Ebene, vor dem steil aufstürmenden Fels,
vor den Wasserfällen.

Tropfen Nektar, du summst
aus meinem Wipfel ins Blau.

Tropfen Honig, du dämmerst
im stillen, verborgenen Stock.

Erste Notiz (Prosa): So. 17.04.2005, Schönbuch bei Tübingen-Hagelloch, vormittags

In sternklarer Nacht

Brombeerbüsche im Winter.
Das wenige Licht.
In Dornenranken eingelagerter Klang,
vom Amsellied,
vom leisen Öffnen der Knospen,
vom Schmetterling,
der sich setzt und das Blatt leicht
zum Schwanken bringt.

Wo sammelt sich all das vergangene Glück,
in welchen Körben und Kisten,
auf dem Grund welcher Seele,
tief innen?
Wo der Schnee das ganze Jahr wächst.
Wo der Wind Kristalle losreißt und hochbläst
und funkeln lässt,
in sternklarer Nacht.

Sa. 30.12.2023, Schönbuch bei Tübingen-Bebenhausen, Nähe Fohlenweide, nachmittags; Aufnahme am nächsten Tag

Nachtigall

Tief in der Nacht bin ich erwacht,
unter Sternen, gegenüber dem Mond.
Nachtigall, lausch in die Lieder des Sternenlichts,
riech Apfelblüten im Haar der Geliebten,
beb im Schritt einer Katze am Strauch.
Die Welt ist groß und das Geheimnis
liegt überall offen, wenn du nur lauschst.
Dein kleines Herz schlägt so schnell
im Zauber des Lebens.

Tief in der Nacht bin ich erwacht,
unter Sternen, gegenüber dem Mond.
Nachtigall, Dornen umgeben dich ganz,
du bist gefangen, behütet, nur Düfte
finden den Weg – und das Licht unseres Sterns.
Die Liebe hat viele Gesichter, und eines davon
mag das deine sein und das dieser Katze.
Dein kleines Herz schlägt so schnell
im Zauber des Lebens.

So. 14.03.2021, Tübingen, Denzenbergstraße 29; Überarbeitung, Erweiterung und Aufnahme: Sa. 03.02.2024, Tübingen, Denzenbergstraße 29, abends