Volker Friebel
Nach dem Aufstieg zum Fürstenhäusle wenden wir uns um und schauen schwer atmend über Burg und See. Annette von Droste-Hülshoff liebte diesen Blick. Im Jahre 1843 hatte sie das Gebäude und einen zugehörigen Weinberg mit 5.000 Rebstöcken günstig ersteigert. Doch sie starb in der Burg bei der Familie ihrer Schwester Jenny, bevor die Renovierung abgeschlossen werden konnte. Schöner Gedanke, ja Sehnsucht aber war es doch bis zuletzt für sie, Herrin eines eigenen Hauses und Besitzerin eines Weinbergs zu sein. „Dennoch bin ich überglücklich und die Aussicht auf mein künftiges kleines Tusculum macht mir alles leicht“ (an Levin Schückling, 14.12.1843). Bezahlt hat sie es mit dem Honorar für ihr zweites Gedichtbuch …
Wir stehen noch immer am Haus und lauschen dem Nachhall der Dichterin. Mit ihren Gedichten konnte ich nie viel anfangen, sie waren mir zu gut gesetzt, zu wenig selbst lebendig – obwohl sie all ihre überströmenden Gefühle in sie hineinzulegen versuchte. Ganz anders ihre Erzählung „Die Judenbuche“.
Doch im Blick über den See spüre ich ihren Blick, spüre dieses Weitwerden, Stillwerden, Kleinwerden und damit Einswerden, ein Zusammenklingen mit dem See und dem Himmel, das vielleicht jeder hier spürt, trotz der stark befahrenen Straße drunten, und für das Verse und Töne und Farben angemessener sind als jede bloße Beschreibung, damals wie heute. In unserer arm gewordenen Zeit könnte allerdings vom Erlös eines Gedichtbuchs kein einziger der übernommenen Rebstöcke bezahlt werden, geschweige denn das Haus auf dem Hügel.
Vor einigen Jahren standen wir auf dem Meersburger Friedhof am Grab der Droste. Noch früher besuchten wir die Burg. An ihr Sterbezimmer erinnere ich mich nicht. Doch ich erinnere, noch einmal früher, einen Abend und eine Nacht allein an der Burg, in meiner Jugend, nach einem Wandertag, fast 44 Jahre sind es nun her.
Damals standen Lauben direkt an der Mauer, durch einen unscheinbaren Seitenweg erreichbar, eine Wirrnis aus Ranken von Winden und Efeu, wie geworfen über ein Eisengerüst, im Duft, im Summen von Bienen und Fliegen. Hier saß ich, sah über den See und wartete auf die Nacht. Auf einer der harten Bänke wollte ich schlafen. Eine Unterkunft zu bezahlen, konnte ich mir damals nicht einmal vorstellen. In der Nacht leuchtete es einige Male von fernen Gewittern, aber der erwartete Regen blieb aus.
Am Abend Schwalben,
kreisend über der Meersburg,
im Wellenrauschen …
Do. 21.05.1981, Meersburg
Das schrieb ich damals, habe es aber, zu unscheinbar-korrekt, nicht in meine Haiku-Auswahl aufgenommen, sondern, nach langem Für und Wider, gestrichen. Jetzt aber passt es – gerade nach meiner ähnlichen Kritik an den Versen der Droste.
Wusste ich damals vom Burgfräulein Annette von Droste-Hülshoff, die 140 Jahre zuvor in einer solchen Mainacht vielleicht auch aus dem Fenster über den See gesehen und die Blitze eines Gewitters gezählt hatte? Wenn ja, dann aus dem Deutschunterricht. Goethe und Schiller, die dort „drankamen“, waren mir daraufhin Jahrzehnte lang vergällt.
Bevor wir die Treppen des Fürstenhäusles wieder zum See hinabsteigen, neige ich mich vor der Dichterin und ihrem Andenken, hat das Burgfräulein aus ihrem kränklichen Leben, Streitfragen der Lyrik hin oder her, doch für sich und die Welt etwas Gutes zu machen gewusst.
Vom Fürstenhäusle
ihr Lied übern See – als Sang
einer Amsel.