Lyrik-Sequenz von Volker Friebel
1
Zum Rund gefügte Quader,
ein Geländer aus Eisen …
Durch Kot und Verwesung,
zermalmtes Gebein,
durch all die Jahresringe der Erde,
sprudelt die Quelle ans Licht:
Ihr Wasser ist klar.
2
An der Mauer Tafeln der Länder,
die um den Strom liegen,
Stadtlärm dröhnt drüber weg,
sickert durch die Wände der Kirche,
wo auf der knarrenden Holzbank du träumst,
um die Leben der Menschen,
Blasen, die zwischen Münzen
im Quelltopf aufsteigen.
Warum die Erinnerung
nicht die „besten“ Jahre uns zeigt,
sondern die Kindheit.
Warum gerade Anfang und Einfalt
den Blick tief
und wehmütig machen.
3
Die Geschwister, im Ochsenwagen
nach Osten, den Stromlauf entlang.
Hütten bauten sie, Kirchen, steinerne Häuser,
nahmen das Land untern Pflug, Handel trieben sie,
errichteten Schulen.
Mein Vater: Barfuß kam er heim in die Fremde.
Meine Großmutter: Soldaten vertrieben sie vom Feld.
Unrecht will auf Unrecht sich häufen, die Tränen
trocknet es nicht. Die Tränen trocknet
das Unrecht
der Zeit.
4
Wie viel Wasser der Quelle
von Tränen stammt? Wie viel Wasser der Quelle
einen Leib schon durchlaufen hat?
Wir zahlen an die Erde zurück, was wir empfingen.
Aber der Himmel möchte noch mehr.
Woher nimmst du die Liebe,
was tust du zum Begleichen der Schuld deines Leben?
5
Es ist die Liebe, die über dem Wasser schwebt.
Hörst du, wie sie singt, mit verbundenen Augen?
Aus der Bewegung deines Herzens
schaut sie in den Himmel hinein.
Um sie strömen die zu erlösenden Ufer.
6
Schlägt dein Herz, weil auch die Quelle sprudelt,
weil das Wasser im Fließen erst die Reinheit zeigt,
die es ist, die es sein wird?
Schlägt dein Herz, weil jede Strophe
mit dem Einsatz beginnt, weil du dein Leben
mit jedem Ton neu beginnen musst?
Schlägt dein Herz, weil es den Takt zum Tanz geben will,
und du suchst nach der Geige noch
und wartest den rechten Einsatz ein Leben lang ab?
7
Die Steine haben nicht versagt, jetzt, wo sie rieseln,
von der Festung zurück als Sand in die Welt.
Nur die Menschen versagen.
Immerhin, du bist nicht unter jenen,
die die Ufer befestigen, immer noch rollst du Steine
ins Wasser zurück.
Immerhin, du hast für keinen neuen Rekord gesorgt,
auf der Hamster-Rennbahn,
dein Versagen bemäntelst du nicht.
8
Festungen brechen. Die Herrscher planen
ein festeres Reich. Und da sich mit Wasser
nicht bauen lässt, aus Ersatzmaterialien,
aus Schaumstoff etwa, aus Gummi.
Tob nur. Es tröstet. Doch
die Hand, die sich um das Schwert schließt,
ist nicht die Hand, die um einen Knüppel fasst,
der ein virtuelles Schwert kontrolliert,
das Lied, das du singst, ist nicht das Lied
aus den Lautsprechern,
du bist nicht du.
Was die Herrscher berühren, wird zu Geld,
doch du siehst an der Quelle, dass es von Anfang an
Schuldscheine waren.
9
Wo kommt dein Leben her, in jedem Moment?
Antworten sagen es nicht.
Es ist das Staunen,
das dich wach hält und offen.
Es ist die Demut,
die dem Himmel ermöglicht, dich zu durchwehen.
Es ist das Lied, das dich ins Strömen bringt,
das du bist und sein sollst.
10
Imperien zerfallen.
Da bleiben Kiefer, Sand und Fluss.
Wenn du leben willst,
dann musst du singen und immerzu sterben,
dann musst du am Wasser dich aufhalten
und wo ein Trepplein hinabgeht zum Wasser,
dann musst du dich durchströmen lassen
vom Himmel.
11
Alles Mühen der Ahnen, ihr Scheitern,
erneutes Mühen – zurückgenommen sind ihre Falten
und glatt gestrichen im Gesicht dieses Neugeborenen,
das seine Augen nun öffnet
und schaut. Bald wird es lächeln,
ins Unbekannte.
Die Frau blickt es an
und wiegt es, summt ihm ein Lied.
Am Quell der Donau.
12
Alle Ströme entspringen im Himmel,
in dem sie enden.
Aus: Volker Friebel (2010): Zonen der Kampfjets. Lyrik und Haiku. Edition Blaue Felder, Tübingen. Leicht überarbeitet.